Der Duft des Apfelgartens
auf eigenartige Weise durch ihn bedroht. Sie hat Angst, dass sie ihn nicht beherrschen kann, falls er ungehorsam oder ungezogen sein sollte. Und das jagt ihr Angst ein. Er ist so sprunghaft und entschlossen und wird noch nicht von gesellschaftlichen Normen gebremst. Die anderen lieben seine kindliche Spontaneität und finden sie drollig; nur sie fühlt sich davon bedroht. So ist sie schon immer gewesen; sie muss das Gefühl haben, Ereignisse und Menschen unter Kontrolle zu haben, sonst wird sie von Panik und Furcht überwältigt.
Als die Sprache darauf kam, dass sie die »Betreuung« von Schwester Nicola übernehmen sollte, fühlte sie sich zwischen Freude und Überraschung, aber auch Angst davor, vielleicht zu versagen, hin- und hergerissen. Manchmal kommt es ihr vor, als wäre Schwester Nicola diejenige, die die Kontrolle ausübt, weil das ruhige, liebenswürdige Wesen der alten Nonne wie Balsam auf ihre Nervosität und Überbesorgnis wirkt und sie auf behutsame Weise in die Lage versetzt, in ihre Pflegerrolle zu finden. Ruth ist dankbar dafür und fühlt sich ermutigt, weil sie in der Lage ist, Schwester Nicola so erfolgreich zu »handhaben«, und stolz auf ihren Sonderstatus. Da bestürzt die Aussicht sie, dieses Privileg jetzt mit Janna zu teilen, und weckt ihre Eifersucht.
Als sie die karierte Decke zusammenfaltet und ans Fußende des schmalen Bettes legt, ist sie sich bewusst, dass sich beim bloßen Gedanken an Janna ihre Muskeln verspannen und ihr Magen sich überschlägt. Genau wie Jakey ist die junge Frau eine unbekannte Größe. Beide sind nicht durch die natürlichen Regeln einer guten Erziehung und einer formellen Ausbildung gezähmt, Jakey, weil er zu jung ist, um sie schon richtig verinnerlicht zu haben, und Janna, weil sie weder das eine noch das andere genossen hat. Und jetzt noch die abschreckende Aussicht auf all diese Veränderungen, den Umzug in die Remise und die Umgestaltung von Chi-Meur zum Haus der Einkehr! Vor lauter Panik gerät Schwester Ruths Herz ins Stolpern, und sie setzt sich auf die Bettkante und drückt die Hand an die Brust. Vielleicht wäre es das Beste, einfach zu den Schwestern in Hereford zu gehen, wo sie vor vielen, vielen Jahren ihr Noviziat absolviert hat. Sogar damals war sie schon ängstlich gewesen, blieb für sich und war argwöhnisch gegenüber den anderen Novizinnen.
»Wahrscheinlich hätten wir alle lieber eine Beziehung zu Gott zu unseren eigenen Bedingungen«, hat die Novizenmeisterin einmal zu ihr gesagt. »Er verlangt von uns, dass wir mit den seltsamsten und unpassendsten Menschen umgehen, stimmt’s?«
Sie steht auf, bückt sich, um die Daunendecke glatt zu streichen, und nimmt Staubtuch und Politur an sich. Mit einem letzten Blick durch das Zimmer geht sie auf den Treppenabsatz hinaus und steigt die Stufen hinunter. In der Eingangshalle trifft sie auf mehrere Gäste, und sie tritt leise und mit einem leichten Nicken an ihnen vorbei und geht in die Küche, wo Janna das Mittagessen kocht und auf Schwester Nicola aufpasst. Die alte Nonne lächelt erfreut, als Schwester Ruth hereinkommt, und streckt auf ihre unbefangene, anhängliche Art die Hand aus. Schwester Ruth nimmt sie, hält sie kurz fest und erwidert Nicolas Lächeln.
»Sie hat Sie vermisst«, meint Janna, die die kleine Szene beobachtet, herzlich.
»Unsinn«, murmelt Schwester Ruth, doch sie freut sich trotzdem. Janna trägt das T-Shirt mit dem Aufdruck Jesus liebt dich, aber ich bin seine Nummer eins . Schwester Ruth findet das beinahe anstößig, denn in Gottes Augen sind schließlich alle gleich. Doch als Janna ihr einen Kaffee anbietet, ringt sie ihre übliche Feindseligkeit nieder. »Ich trinke vielleicht eine kleine Tasse, vielen Dank«, antwortet sie.
Später huscht Janna unauffällig davon. Sie überquert den Hof und geht zur Remise, wo gebaut wird, um das Haus an die Bedürfnisse der Schwestern anzupassen: Die Küche muss modernisiert, ein Treppenlift installiert und eine Tür zur Kapelle durchgebrochen werden, und dazu kommt die Wendeltreppe in dem Zimmer am Ende des Ganges. Die Räume, an die jeweils ein kleines Bad angeschlossen ist, sind größer, als die Nonnen es gewöhnt sind – eindeutig eine Verbesserung. Einer der Wohnräume neben der Küche wird ein ausgezeichnetes Refektorium abgeben, und der andere eine Mischung aus Salon und einer einigermaßen großen Bibliothek. Dann sind noch zwei kleinere Räume und Jannas Zimmer am Ende des Gebäudeflügels übrig.
Die Handwerker sind
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