Der Duft des Apfelgartens
Sie trägt ihren Arbeitshabit und zwei Hüte; einen Strohhut mit breiter Krempe und darüber einen Sonnenhut aus Baumwolle. Instinktiv sieht Clem sich sofort nach Schwester Ruth um, die normalerweise nicht weit entfernt ist, aber heute ist Schwester Nicola allein gekommen. Sie steht da, sieht ihn an und lächelt beinahe schüchtern, und er erwidert ihr Lächeln.
»Hallo, Schwester«, sagt er. »Schön, zur Abwechslung mal die Sonne zu sehen, was?«
Sie nickt ziemlich unschlüssig und umfasst ihren Stock fester. Clem legt den Rechen weg, geht zu ihr und führt sie zu einer Bank in der Nähe. Sie begleitet ihn bereitwillig, späht unter der Krempe des alten Strohhuts zu ihm auf und setzt sich. Ein kurzes Schweigen tritt ein, doch es ist friedlich und überhaupt nicht verlegen. Schmetterlinge gleiten und flattern über die dunkelvioletten Spitzen des Sommerflieders, und ein Eichhörnchen rennt über den Rasen und flüchtet schnell auf einen Baum. Clem schaut mit hochgezogenen Augenbrauen auf Schwester Nicola hinunter und fragt sich, ob sie es gesehen hat.
Sie nickt wie zur Antwort auf seine unausgesprochene Frage. »Baumratten«, erklärt sie laut und deutlich.
Clem fährt vor Verblüffung beinahe zusammen und lacht dann. »Sie richten sehr viel Schaden an«, pflichtet er ihr bei. Er lächelt in sich hinein, weil ihm klar ist, dass sie in dem Tier das pelzige Eichhörnchen Nusper aus dem Buch von Beatrix Potter gesehen hat. Er spürt eine seltsame Verbundenheit mit ihr, und sie sitzen weiter in freundschaftlichem Schweigen da. Sie lehnt sich schwer gegen seinen Arm.
»Warum tragen Sie eigentlich zwei Hüte?«, fragt er und überlegt, ob sie vielleicht eingenickt ist und ob er sie zum Haus zurück begleiten soll.
»Einer davon hat ein Loch«, antwortet sie.
»Aha.« Er nickt.
Sie wirft ihm einen Seitenblick zu, einen forschenden Blick, der ihn leicht in Verlegenheit stürzt, und dann greift sie nach seiner Hand und hält sie in ihrer fest. Sie dreht sie um und betrachtet sie eingehend, während er ganz still dasitzt und wartet.
»Verzeihst du mir?«, fragt sie ganz leise. »Ja? Ich konnte doch nicht anders.«
Ihr Griff wird fester, und er drückt zur Antwort ihre Hand, obwohl er sich plötzlich beunruhigt fühlt.
»Natürlich tue ich das«, versichert er ihr eilig und sieht in ihre Augen, in denen Tränen stehen. »Kommen Sie, Schwester! Wir gehen zu Janna und fragen sie, ob sie uns Kaffee kocht, ja?«
Er steht auf, beugt sich über sie und versucht, ihr aufzuhelfen; und sie schaut zu ihm hoch, die Augen noch voller Tränen, und strengt sich an, auf die Beine zu kommen.
»Da bist du ja!«
Der Schrei lässt beide zusammenfahren, und sie drehen sich gleichzeitig um. Schwester Ruth kommt über den Rasen auf sie zugeeilt; ihre Miene zeigt eine Mischung aus Erleichterung und Ärger.
»Ich hatte ja keine Ahnung, wo du steckst«, sagt sie zu Schwester Nicola und nickt Clem zu. »Wir haben Bohnen fürs Mittagessen gepflückt«, erklärt sie, »und plötzlich war sie verschwunden.« Sie atmet immer noch schwer, und Clem spürt, dass sie wirklich Angst gehabt hat.
»Wir haben in der Sonne gesessen«, sagt er und lächelt Schwester Nicola zu, die jetzt unbestimmt, aber ruhig dreinschaut, und hofft, dass sie sich von ihrer Bestürzung, deren Ursache er nicht kennt, erholt hat. »Alles ist gut.«
Schwester Ruth nimmt den Arm der Älteren. »Komm«, bittet sie. »Lass uns zurückgehen! Du hast dein kleines Abenteuer gehabt.« Sie wirft Clem noch einen Blick zu, lächelt kurz und schmallippig und nickt, und dann gehen die beiden Frauen über den Rasen davon.
Clem zuckt kaum wahrnehmbar die Schultern und beschäftigt sich erneut mit Rasentrimmer und Rechen. Er fragt sich, was Schwester Nicola wohl so aufgeregt hat und wofür sie Vergebung braucht – und von wem.
Am frühen Abend fährt Dossie Jakey zurück nach Chi-Meur. In dem langen, ausgebleichten Gras unter den Dornenhecken wachsen lilafarbener Blutweiderich und Steinklee, aber es ist deutlich zu erkennen, dass der Sommer fast vorüber ist. Jenseits der zottigen Hecken schimmern die farblosen, hellen Stoppelfelder, und darüber stößt ein Schwarm Mehlschwalben herab und fährt wieder auf.
»Ich bin jetzt fünf«, verkündet Jakey plötzlich.
»So ist es«, pflichtet sie ihm bei. »Ein großer Junge.«
»Und wie alt issst der Ssstreifenhase?«, fragt er.
»Nun ja.« Sie zögert, überlegt, wie alt Jakey ihn haben möchte. »Ist er auch fünf?«
»Nein,
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