Der Duft des Apfelgartens
vorsichtig nach den Brombeeren greifen und sich recken, so hoch sie können, lösen sich andere üppige Früchte und fallen knapp außerhalb ihrer Reichweite herab. Jedes Mal, wenn das passiert, schreit Schwester Emily leise auf, weil es ihr um jede einzige köstliche Beere, die sie verlieren, leidtut.
Janna stöhnt mitfühlend. »Warum sitzen die besten Früchte bloß immer da, wo man nicht rankommt? Sehen Sie sich diese Riesenbeeren da oben auf dem Zweig an. Passen Sie auf, ziehen Sie ihn mit Ihrem Stock herunter; vorsichtig, wir haben sie fast. Oh …«
Und sie schreien gemeinsam frustriert auf, als die Brombeeren in das Dickicht der Dornenhecke fallen. Dann nehmen sie die großen Plastikeimer und gehen ein Stück weiter an der Hecke entlang zu der Stelle, wo in der Septembersonne weißlich überhauchte, tiefblaue Schlehen reifen.
»Aufgesetzter mit Schlehen?«, schlägt Janna vor. »Was meinen Sie?«
»Aber werden Sie auch noch hier sein, um ihn mit uns zu trinken?«, erwidert die Schwester, und Janna wendet sich rasch ab, als wäre sie von einer der schläfrigen Wespen gestochen worden oder hätte sich an einer der scharfen Dornen verletzt.
»Das wird so aufregend!« Schwester Emily löst eine besonders anhängliche Dornenranke von ihrem Rock, an dessen blauem Stoff nach vergangenen Expeditionen bereits Fäden gezogen sind. »Kurse, Workshops, ignatianische Exerzitien. Wir bekommen jetzt Rückmeldungen aus anderen Einkehrhäusern, und es gibt so vieles, das man lernen und auf das man sich freuen kann. Wir werden alle sehr beschäftigt sein. Haben Sie Angst davor, gebraucht zu werden?«
Janna schweigt, versucht, ihre Gefühle zu definieren, und antwortet dann aufrichtig. »Wahrscheinlich ein wenig. Aber es steckt mehr dahinter. Schwester Ruth und ich kommen einfach nicht miteinander aus, und ich kann mir nicht vorstellen, wie da so ein enges Zusammenleben funktionieren soll.«
»Haben Sie sich denn immer mit den Menschen verstanden, mit denen Sie zusammengearbeitet haben? Wenn, dann haben Sie großes Glück gehabt. Natürlich entstehen gerade in einer Gemeinschaft Missverständnisse und Streit, aber das ist einfach ein Zeichen dafür, dass ein Mensch im Allgemeinen den anderen nicht versteht. Hat das wirklich alles mit Schwester Ruth zu tun? Ich habe große Veränderungen an Ihnen bemerkt, Janna; Sie haben mehr Selbstvertrauen entwickelt.«
»Wirklich?« Sie ist erfreut – und verwirrt. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das spüre.«
»Habe ich nicht Schwester Nicola mit dem Schal gesehen, den Ihre Mutter Ihnen geschenkt hat?«
»Ach, das.« Janna pflückt noch ein paar Beeren. »Na ja, ich habe ihn ihr auf der Party für den Streifenhasen umgelegt, und irgendwie ist sie damit davongegangen. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihn zurückzuverlangen. Sie scheint ihn ziemlich oft zu tragen.«
Beide lächeln über das skurrile Bild des verschlissenen indischen Schals mit seinen glitzernden Goldfäden, der über Schwester Nicolas nüchternem Habit um ihre Schultern geschlungen liegt.
»Aber früher einmal«, wagt sich Schwester Emily vor, »hätten Sie ihn, glaube ich, zurückhaben wollen, oder? Sie haben den Schal in Ehren gehalten und ihn gebraucht. Er war ein wichtiges Symbol.«
Janna antwortet nicht sofort, sondern pflückt weiter. Die schräg einfallende Nachmittagssonne ist heiß. Schmetterlinge mit samtigen Flügeln – Große Ochsenaugen und Kleine Füchse – flattern umher und lassen sich auf den Beeren nieder, während in der unbewegten Luft schimmernde Wolken winziger Mücken tanzen und sich über ihnen ein Pilgerzug von Schwalben auf dem Telegrafendraht sammelt und mit hohem, melodischem Zwitschern über seine Reiseroute debattiert.
»Sie scheint eine Art Trost daraus zu beziehen«, gesteht Janna schließlich widerwillig ein. »Im Moment braucht sie ihn mehr als ich, das ist alles.«
»Und wir alle beziehen Trost aus Ihnen, vielleicht mit Ausnahme von Schwester Ruth«, meint Schwester Emily sanft. »Es ist schwer, Verantwortung zu übernehmen, stimmt’s? Sich in einer Gemeinschaft Gott zu verpflichten, kann bedeuten, dass wir durch Nähe oder durch Einsamkeit gekreuzigt werden. Daher wird eine solche Verpflichtung nicht leichtherzig eingegangen. Aber Sie brauchen sich nicht auf diese Weise festzulegen. Sie können jederzeit weggehen, wenn Sie Lust dazu haben.«
»Ich will ja gar nicht weg«, ruft Janna aus. »Ich bin schrecklich gern hier. Wenn nur alles so hätte weitergehen
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