Der Duft des Bösen
solche Fantasien und reden dann darüber, als seien sie real. Wenn er das schon ihr, einer flüchtigen Bekannten, erzählt hatte, dann sicher auch anderen Leuten. Und wenn Belinda und ihre Mutter bereits Fantasiegebilde waren, wie viel von seinem restlichen Leben war dann eine erfundene Geschichte, eine Lüge?
Buchhalter sei er, hatte er gesagt, und fahre mit der U-Bahn von Paddington aus zu seinem Arbeitsplatz. Eine Mutter hätte er, sei nie verheiratet gewesen und besäße kein Auto. Einiges davon könnte wahr sein, anderes nicht, doch das konnte sie nicht überprüfen. Wie sie so im Bett saß, merkte sie, dass sie sich nicht auf den Roman konzentrieren konnte, den sie als Taschenbuch gekauft hatte. Dort oben war Jeremy – vor einer Stunde hatte sie ihn von seinem Abendspaziergang heimkommen gehört –, und doch hatte sie von ihm keinen Laut mehr vernommen. Möglicherweise war der Name, den er sich gab, nicht sein echter. Zum ersten Mal grübelte sie darüber nach, dass Ludmilla ihre Miete per Scheck beglich und Becky dasselbe für Will tat, während Jeremy immer bar bezahlte, in Fünfzig- und Zwanzig-Pfund-Noten. Sollte sie diese Tatsache wichtig nehmen? Vielleicht wollte er ihr die Möglichkeit geben, die Angabe ihrer Mieteinnahmen bei der Steuer zu vermeiden, etwas, was sie noch nie getan hatte. Andererseits bestand die Möglichkeit, dass er deshalb auf diese Art bezahlte, weil der Name »Jeremy Quick« nicht auf seinem Bankkonto stand.
Sie verbrachte eine unruhige Nacht. Immer wieder stahl sich die Vorstellung, er würde nicht schlafen, sondern sei ungefähr viereinhalb Meter über ihr wach und lausche abwartend, zwischen sie und den Schlaf. Natürlich wusste sie ganz genau, dass nächtliche Ängste und andere Auswüchse einer überhitzten Fantasie meistens gegen Morgen verschwinden, und doch verdrängte dieses Bewusstsein die Angst nie ganz. Jetzt war es genauso. Zum Glück dauerte um diese Jahreszeit die Dunkelheit nur wenige Stunden. Morgens um halb fünf war es bereits hell, und sie schlief ein wenig. Als sie sich um acht Uhr ihren Kaffee kochte und dazu zwei Aspirin schluckte, hörte sie Jeremy herunterkommen und dann das leise Klicken der Haustür, als er sie aus Rücksicht auf sie vorsichtig zumachte.
Noch nie zuvor hatte sie einen ihrer Mieter vom Fenster aus beobachtet, doch jetzt, bei Jeremy, tat sie es, mit ihrem Becher Kaffee in der Hand. Zu ihrer Überraschung musste sie sehen, wie er nicht den Bahnhof Paddington oder die Edgware Road ansteuerte, sondern die Bridgnorth Street hinaufging. Er hatte ein dunkelgrünes Sportsakko an und trug einen Koffer, obwohl er behauptet hatte, er fahre nur tagsüber zu seiner Mutter, die in Leicestershire lebte. Demnach hätte Inez erwartet, dass er die Circle Line nahm, oder andernfalls ein Taxi nach King’s Cross. Auf der Bridgnorth Street kam ihm ein Taxi mit eingeschaltetem Signallicht entgegen, ein höchst ungewöhnlicher Anblick zu dieser Stunde, aber er hielt es nicht an. Offensichtlich hatte er vor, zu Fuß nach King’s Cross zu laufen, eine ziemlich lange Strecke, wenn man eindeutig einen schweren Koffer schleppte.
Inzwischen war Inez brennend daran interessiert, was Jeremy vorhatte. Leider hatte sie keine Chance, es zu erfahren, denn im nächsten Augenblick würde er das hinterste Straßenende erreichen. Sie wollte sich schon umdrehen, da bog er stattdessen in die Lyon Street ein. Wollte er etwa jemanden besuchen? Eine echte Freundin? Oder einen Freund, den er zum Besuch bei seiner Mutter mitnehmen würde? Er war aus ihrem Blickwinkel verschwunden, jetzt würde sie es nie erfahren. Und doch blieb sie weiter dort stehen, trank langsam ihren Kaffee und ließ die Leere und Stille eines frühen Morgens beruhigend auf sich wirken. Winzige Tupfenwölkchen sprenkelten einen blassblauen Himmel, schwach schien die Sonne aus weiter Ferne. Eine Katze lief lautlos über die Straße und stellte sich auf die Hinterpfoten, um den Inhalt eines Abfalleimers zu untersuchen. Aus der Bridgnorth Street tauchte eben der Zeitungsjunge auf und schob seinen mit Zeitungen bepackten Karren vor sich her, da kam aus der Bridgnorth Street ein Auto heraus und fuhr Richtung Edgware Road, dicht gefolgt von einem zweiten, das langsam in dieselbe Richtung fuhr, diesmal allerdings von der anderen Straßenseite aus und weiter die Star Street hinauf, näher zum Norfolk Square. Am Steuer saß Jeremy Quick.
Obwohl Inez nicht hätte beschwören können, dass er es war, war sie sich
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