Der Duft des Bösen
»Times«. Bei jedem seiner Besuche löste er eines. Becky, die einen flüchtigen Blick darauf warf, bevor sie es in den Abfall warf, erkannte, wie sehr er sich darin verbessert hatte. Mittlerweile gab es nur selten leere Kästchen, in denen er einen verschlüsselten Hinweis nicht herausbringen und das Wort nicht hatte finden können. Zum Abschied küsste er sie auf die Wange und sagte, in ein oder zwei Tagen würde er wieder »hereinschauen«. Kurz vor seiner Ankunft und sofort nach dem Abschied trank sie einen oder auch zwei tiefe Schluck Whisky direkt aus der geheimen Flasche, die sie stets in der Küche, in einem Geheimfach, versteckt hielt.
Außerdem kam Keith Beatty auf Besuch. Bestürzt registrierte Becky, wie schockiert Keith auf Wills Anblick reagierte. Dabei wurde ihr bewusst, wie sehr sie sich an dessen verschlechterten Zustand bereits gewöhnt hatte. Einige Minuten wusste Keith nicht, was er sagen sollte, doch dann fasste er sich wieder und gab sich alle Mühe, wozu sie ihm insgeheim gratulierte. Und er erzählte von der derzeitigen Renovierungsarbeit, von seiner Frau, den Kindern und von seiner Schwester.
»Kim hat dich echt vermisst, Will. Immer wieder hat sie gefragt, was du denn so treibst, und gemeint, du würdest dich schon noch rühren und ein Rendezvous ausmachen. Und dann das. Ihr kann seither die Polizei gestohlen bleiben, das kann ich dir sagen.«
Becky war verblüfft. Wie damals, beim ersten Treffen mit ihrem Neffen, dachte er anscheinend immer noch, Will sei ein normaler Mensch, der nur eben ziemlich zugeknöpft sei und aus irgendeinem Grund die elementare Schulbildung verpasst hätte. War auch die Schwester dieser Ansicht?
»Ich könnte sie zu dir auf Besuch herbringen, wenn das Miss Cobbett, ich meine Becky, recht ist.«
»Selbstverständlich.«
Was konnte sie sonst sagen? Außerdem besserte sich Wills Verhalten in Gesellschaft von Keith zusehends. Während er auf James immer argwöhnisch reagierte, redete er sogar ein bisschen, beantwortete seine Fragen und lächelte genauso viel wie früher, bevor ihn die Polizei beim Umgraben dieses Gartens erwischt hatte. Vielleicht wäre es bei Kim dasselbe. Becky betrachtete es als eine Art Therapie. Vielleicht war das der Weg, um Wills altes Ich wiederherzustellen.
Keith glaubte eindeutig, Will sei einfach physisch krank gewesen, hätte eine Grippe oder einen Virus aufgeschnappt. Vermutlich sollte sie Inez dankbar sein, weil sie für diesen Eindruck unter Wills Bekannten gesorgt hatte. Sie hingegen hatte fast zum ersten Mal seit seiner Geburt keine Schuldgefühle mehr. Indem sie ihm ihr Leben, ihre Zukunft und ihr ganzes Ich geopfert hatte, hatte sie sich von ihrer Schuld befreit. Allerdings galt das nur für ihn. Was ihren Job – sie hatte versagt und nicht, wie beabsichtigt, von zu Hause aus gearbeitet –, ihre Karriere und ihren möglichen Liebhaber betraf, fühlte sie sich in hohem Maße schuldig. Schuldgefühle gehörten zweifellos zu ihrem Wesen. Sobald sie diese aus einem Bereich verbannte, tauchten sie garantiert andernorts wieder auf. Das Trinken war ein wesentlicher Bestandteil ihrer Lebensart geworden, und zwar in seiner schlimmsten Ausformung: heimlich, verstohlen, wie verschworen. Und daran waren ihr Ego und ihr Unterbewusstsein in gleicher Weise als Verschwörer beteiligt.
Diese Selbstbetrachtung bot mitnichten eine Lösung für ein Problem, das sie schrecklich belastete: Was sollte sie tun, wenn sie erst wieder in ihr Büro müsste? Wenn sie ihren Job behalten wollte, musste sie zurück. Bis zum Ruhestand hatte sie noch zwanzig Jahre, und außerdem hatte sie sich sowieso nie zur Ruhe setzen wollen.
Am Rande der Verzweiflung hörte sie zu, was Keith über seinen kleinen Sohn plauderte, der eben in den Kindergarten kam, und sie sah, wie Will lächelnd nickte und meinte »Braver Junge« und »Er ist jetzt schon groß.« Während sie nur eines dachte: Wie sehr sie doch im Käfig des Betreuers saß, in einer Falle ohne Fluchtweg, gefangen in der undankbaren, unbezahlten, mühsamen und abstumpfenden Langeweile, die einen Menschen erwartete, der sich um Minderbemittelte kümmerte.
In der gleichen Woche fand man im Vorgarten eines Hauses in South Kensington die Leiche von Jacky Miller. Man hatte das Haus abgerissen und einen Großteil des Schutts eingesammelt und abtransportiert. Trotzdem lagen auf dem vorderen Grundstücksteil, wo früher einmal Rasen gewesen war, schon wieder Ziegelsteine, Latten, Fetzen von Glaswolle,
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