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Der Duft des Bösen

Der Duft des Bösen

Titel: Der Duft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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vereinten Kräften auf die Beine. Julitta nahm einen Arm, Flint den anderen. Anwar hörte, wie sie die Treppe hinunterpolterten. Julittas Absätze klapperten, Keefer murmelte und fluchte vor sich hin und trat mit seinen Stiefeln gegen die Stufen. Zurück zur Kassette. Allmählich sah es aus, als müsste er Gibbons-Quick dazu bringen, das Ding selbst zu öffnen. Ein bisschen Folter – o ja. Und ratz-fatz wäre es auf. Doch kaum wären sie weg, würde der Typ mit einer exakten Personenbeschreibung zur Polizei marschieren. Anwar legte größten Wert auf ein makelloses Führungszeugnis und auf seinen Ruf, den sein Schuleschwänzen bisher nur leicht angekratzt hatte.
    Jetzt probierte er x-beliebige Kombinationen. Eins-Zwei-Drei-Vier und Fünf-Sechs-Sieben-Acht. Viermal die gleiche Zahl: Sechs-Sechs-Sechs-Sechs, Acht-Acht-Acht-Acht. Nichts funktionierte. Und dann, nur zum Spaß, nur weil er sie gerne sah, die Nummer, die er nie für einen Safecode verwenden würde, dazu war sie zu einfach. Denn das war seine Nummer, eine, die Gibbons-Quick unmöglich verwenden konnte: Drei-Drei-Acht-Sechs. Sein eigenes Geburtsdatum, 3. März 1986. Zeitverschwendung, schalt er sich innerlich. Und doch tippte er sie ein.
    Die Kassette gab ein dumpfes Knurren von sich, dann klickte es zweimal, und – die Tür glitt auf.
    »Ich glaub’s nicht«, sagte Anwar und schloss die Augen. Als er sie wieder aufmachte, stand die Tür immer noch offen. »Na los, reiß dich zusammen. Du hast es geschafft.«
    Aber was war das? Ein Paar billige Ohrringe, ein Feuerzeug und eine Mädchenuhr zum Anstecken. Enttäuschung machte sich breit und verschwand sofort wieder, als ihm plötzlich ein Licht aufging. Das waren die Ohrringe, die von Jacky Miller. Das Feuerzeug gehörte einem der anderen Mädchen, und die Uhr einer dritten. Tagelang hatte es in den Zeitungen gestanden und war über die Glotze geflimmert. Zwei ermordete Mädchen und wahrscheinlich ein drittes Mordopfer. Gibbons-Quick besaß ihre Sachen, oder besser gesagt, er hatte sie besessen. Das musste heißen, er hatte sie getötet. Er war der Rottweiler. Welche andere Erklärung gäbe es sonst?
    Anwar war zwar ein alter Ganove, aber trotzdem erst sechzehn. Er stammte aus einem, wie es sein Schuldirektor genannt hätte, »netten Elternhaus« und war in der Tradition der indischen Mittelklasse aufgewachsen. Harte Arbeit, langwierige Ausbildung, sparsames Haushalten und Betonung des Familienlebens – eines außerordentlich weit verzweigten Familienlebens. Beim Gedanken, dass er, der Akademikersohn, dem ein großartiges Schicksal bestimmt war, in die Wohnung eines Serienkillers eingebrochen und ihn ausgeraubt hatte, schüttelte es ihn förmlich. Ihm war, als hätte ihn eine Dusche, aus der nur kaltes Wasser kam, mit einem eisigen Wasserschwall überschüttet und zur Säule erstarren lassen. Einen Augenblick, aber nur einen einzigen, dachte er daran, sich der Kassette samt Inhalt zu entledigen. Den anderen würde er erzählen, sie hätte außer Modeschmuck und ein paar Geldscheinen nichts enthalten, und dann würde er sie über eine der Brücken in den Kanal fallen lassen.
    Aber die Kassette war ein potenzieller Geldesel. Und zwar kein kleiner. Sie könnte Tausende einbringen, sogar mehrere Zehntausend. Denk daran, Gibbons-Quick ist stinkreich, sagte er zu sich. Denk daran, er hat zwei Wohnungen. Er ist ein reicher Knacker. Was nun? Bleib hier in aller Ruhe sitzen und denk nach. Denk an den nächsten Schritt. Eines durfte er außerdem nie vergessen: Dieser Mann war äußerst gefährlich.
     
    Kurz vor siebzehn Uhr saß Anwar bereits im weißen Van vor den Remisenhäuschen. Er wagte nicht, auszusteigen, falls der Verkehrspolizist zurückkäme, der hier drinnen die Runde gemacht und sich bei Anwars Ankunft eben erst getrollt hatte. Geparkt hatte er auf der gegenüberliegenden Seite von Nummer neun, wo es eine dicht mit Kletterpflanzen bewachsene Ziegelmauer gab. Von hier aus konnte er die Nummer 14 mühelos im Blick behalten. Zu dem Haus gehörte eine Garage. Bei einem Blick durch das kleine Fenster entdeckte Anwar drinnen einen silbernen Mercedes. Im Gegensatz zu Inez unter ähnlichen Umständen notierte er sich das Nummernschild.
    Er hatte seine Entdeckung noch nicht wirklich verinnerlicht. Jedes Mal, wenn er an die Gegenstände im Inneren der Kassette dachte, brach ihm auf Handflächen und Stirn der Schweiß aus, und er ertappte sich bei der Frage, ob er denn träumte. Das konnte doch nicht wahr sein.

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