Der Duft des Bösen
höchstwahrscheinlich noch im Bett. Wie immer würden sie gegen ein Uhr aufstehen und zum Lunch gehen, ein gewaltiges Mittagessen aus Roastbeef, Yorkshire Pudding, Bratkartoffeln und zweierlei Gemüse, wie man es bei »Crocker’s Folly« droben am Aberdeen Place bekam. Jeremy Quick war vielleicht schon auf und lief herum, aber er war immer mucksmäuschenstill, ohne dass er nach Mäuseart knispelte und wuselte. Der Vormittag wirkte viel versprechend: ein milchig-blauer Himmel mit winzigen weißen Wölkchen, die an Joghurtkleckse erinnerten, und milder Sonnenschein. Der Wind von gestern hatte sich gänzlich gelegt. Im Garten begann allmählich der alte Birnbaum zu blühen. Jeremy genoss vermutlich seinen Kaffee oder sogar ein frühes Mittagessen draußen auf seinem Dachgarten. Am Nachmittag würde er zum Krankenhaus aufbrechen, wo Mrs. Gildon dahinsiechte und Belinda vier von sieben Nächten zubrachte. Zweimal wöchentlich machte er seine Krankenbesuche.
Was Will betraf, der war bestimmt schon hinüber in die Gloucester Avenue gegangen, um den Tag bei Becky zu verbringen. Sie hatte ihn zwar nicht weggehen gehört, aber sie schlief nach hinten hinaus, und da waren Schritte auf der Treppe nicht immer vernehmbar. Becky ist so nett und aufmerksam, dachte sie, weit über die Pflichten einer Tante hinaus. Will musste sie für seine Mutter halten … Wieder lauschte sie, hörte aber nur die Stille. Dann fuhr ein Auto die Star Street entlang, in der Ferne jaulte eine Feuerwehrsirene. Gefühle, die sie normalerweise zu unterdrücken versuchte, umgaben sie wie gläserne Wände. Ein Gefühl von Isolation, von absoluter Vereinzelung in einer Welt, in der alle anderen einen Partner hatten. Gestern Abend war sie spazieren gegangen, aber ein bitterkalter Wind und das ebenso bittere Gefühl beim Anblick so vieler Paare hinter erleuchteten Fenstern hatten sie nach Hause getrieben, wo sie als ihre unfehlbare Medizin ein Forsyth-Video eingelegt hatte. Es hatte seine Schuldigkeit getan, allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt, was manchmal geschah. Voll Sehnsucht war sie zu Bett gegangen, nicht nach dem Geist auf dem Band, nach jenem Schattenwesen, das Martin in Aussehen und Sprache glich, sondern nach dem echten Mann mit den Armen und Lippen und der Stimme eines echten Menschen.
Eigentlich könnte sie jetzt genauso gut wieder ein Band ablaufen lassen. Wie wäre es mit »Forsyth und das Wunder«, ihrem Lieblingsfilm? Denn darin starb Forsyths junge Frau, und er trauerte ebenso um sie, wie sie, Inez, ihn betrauerte. Mit leiser Melancholie dachte sie, dass er genauso untröstlich gewesen wäre wie der Chief Inspector, den er verkörperte, wenn sie verstorben wäre und nicht er. Und gelegentlich wünschte sie sich genau das.
Stets drehte sie den Ton leise, um niemanden zu stören. Deshalb konnte sie auch nach ungefähr zwanzig Minuten hören, wie jemand die Treppe herunterkam. Da die Schritte vor ihrer Tür abbrachen, hielt sie das Band an. Der oder die Unbekannte musste dort draußen stehen und warten. Sie lauschte, hörte Stille, und weil sie wusste, dass es sich nur um einen der Hausbewohner handeln konnte, öffnete sie die Tür. Es war Will.
»Will, stimmt etwas nicht?«
Er hatte geweint, das konnte sie an seinen geschwollenen Augen erkennen. Sein rotes Gesicht kam aber vermutlich daher, dass sie ihn überrascht hatte, während er noch zögerte, bei ihr zu klingeln.
Statt einer Antwort sagte er mit stockender Stimme: »Ich gehe aus, das ist alles. Ich gehe aus.« Damit stieß er die Tür zur Straße auf und warf sie hinter sich zu, was für Will höchst ungewöhnlich war.
Inez wusste sich darauf keinen Reim zu machen, redete sich aber ein, er sei höchstwahrscheinlich nur zu spät zu Becky aufgebrochen oder hätte vergessen, etwas für sie zu besorgen. So etwas in der Art. Sie widmete sich wieder »Forsyth und das Wunder«, ihrer kleinen Lieblingsszene, in der Forsyth morgens aufwacht und ganz kurz glaubt, er hätte den Tod seiner Frau nur geträumt. Wie oft hatte auch sie in Bezug auf Martin dasselbe empfunden!
Während Will die Star Street entlang in Richtung Edgware Road rannte, hörte er, wie hinter ihm die Tür ins Schloss krachte. Die Befürchtung stieg in ihm hoch, er würde sich deshalb Probleme mit Inez einhandeln. Das wollte er nicht. Nach Becky lag ihm am meisten an Inez’ Zuneigung und an ihrem Schutz, auch wenn er das nicht hätte ausdrücken können. Angst hatte seine Schritte gebremst, und doch war er
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