Der Duft des Bösen
erzählt hatte, Belinda sei sechsunddreißig, erkannte er an Inez’ Miene, dass er einen Fehler gemacht hatte. Einer Frau mit einem Minimum an Verstand würde so etwas auffallen. Er hatte ihre Gedanken geahnt und sämtliche argwöhnischen Fragen vorweggenommen, indem er beiläufig die Bemerkung hatte einfließen lassen, Belinda sei ein Adoptivkind. Das war ein Geniestreich gewesen. Belinda hatte er aus reiner Notwendigkeit erfunden, um nicht als Einzelgänger dazustehen, der seine Abende in bedrückender Einsamkeit verbrachte, sondern als normaler Mann. Ein weniger fantasiereicher Mensch hätte sie Jane Venables genannt oder Anne Tremayne, Namen aus Romanen, wie sie besonders Schnulzenautoren liebten. Das wäre doch mal eine interessante Untersuchung, vielleicht als Teil einer Doktorarbeit: Welche Namen wählen Schriftsteller für ihre Figuren? Man könnte sie in Kategorien einteilen: von Trollopes lautmalerischem Dr. Omicron Pie über Sir Leicester Dedlock von Dickens bis zu den Carruthers und Winstanleys der Spionagethriller, deren Ehefrauen samt und sonders Mary hießen. Genauso schlau war seine Erklärung gegenüber der Polizei gewesen, er hätte einen Mann oder eine Frau rennen gesehen und für einen abendlichen Jogger gehalten. Sie trauten ihm, bewunderten ihn sogar. Das konnte er erkennen.
Er hatte seinen Wodka ausgetrunken, einen zweiten würde es nicht geben. Er würde auch keine Zigarette rauchen. Alexander war der Raucher, er nicht. Alles in Jeremys Leben war organisiert und bis ins kleinste Detail festgelegt. Alexander war viel lässiger. Um zwanzig nach sieben würde er hinuntergehen und an Inez’ Tür klopfen. Obwohl er versucht war, sich weitere dramatische, bedeutungsvolle, schockierende Möglichkeiten auszudenken, wie er sich des Schlüsselrings und des Feuerzeugs entledigen könnte, verbannte er diese pochenden Gedanken, setzte sich zwischen den Lorbeerbäumen in einen Sessel und holte sich vom Tisch Kants »Kritik der reinen Vernunft«. Die Stelle, an der er seine Lektüre abgebrochen hatte, war mit einem Lesezeichen aus grünem, mit goldenen Blättern verziertem Leder gekennzeichnet. Im Vergleich zu Nietzsche war dieses Buch zwar schwieriger, aber auch ergiebiger. Schon vor langem hatte er sich beigebracht, sich auf die momentane Situation zu konzentrieren, egal, was es war. Und an diesem mentalen Punkt traf er sich mit Alexander.
Um siebzehn Minuten nach sieben – vor einer halben Stunde hatte er das Licht eingeschaltet – legte er das Lesezeichen wieder ein, diesmal allerdings zehn Seiten weiter, trug sein Glas in die Küche und stellte es auf die Abtropffläche, ließ eine einzige Lampe brennen und noch eine in seiner kleinen Diele, nahm seinen Schlüsselbund und ging hinunter. Er klingelte bei Inez. Nach kurzer Verzögerung öffnete sie die Tür bei vorgelegter Sicherheitskette. Sehr klug. Normalerweise klopfte er nur leicht an ihre Tür. Sie hatte als Besucher einen anderen Mieter erwartet, einen, den sie nicht hereinlassen, sondern auf der Türschwelle abfertigen würde, und deshalb den Fernseher weiterlaufen lassen. Sie zog die Kette heraus, drehte sich um und schaltete den Apparat rasch aus.
Er erfasste sofort, womit sie sich gerade beschäftigt hatte. Auf dem Bildschirm war nur irgendeine Autojagd zu sehen gewesen, und auch das nur ganz kurz. Doch er entdeckte im Regal die Kassettenhülle mit einem Foto ihres verstorbenen Mannes auf dem Rücken. Martin Ferry. Obwohl Jeremy keinen seiner Filme länger als fünf Minuten gesehen hatte, erkannte er ihn von Zeitungsfotos wieder. Inez wurde rot. Wie töricht musste sie erscheinen, wie pathetisch und sentimental, wenn sie sich immer noch auf derart lächerliche Weise mit einem Mann beschäftigte, der seit drei Jahren tot war.
»Tut mir schrecklich Leid, Inez, wenn ich Sie störe«, sagte er in einem Ton, der vielleicht etwas zu mitfühlend klang, denn sie warf ihm einen leicht argwöhnischen Blick zu.
»Ist schon in Ordnung, Jeremy. Was kann ich für Sie tun?«
»Es ist mir ein bisschen peinlich. Aber ich bin heruntergekommen, um es Ihnen zu erklären.«
»Möchten Sie etwas trinken?«
Er schüttelte den Kopf. »Darf ich mich setzen?«
»Natürlich. Sie können am Mittwoch nicht kommen, ist es das? Belinda kann nicht weg?«
Er hatte seine Geschichte vorbereitet, und das war auch gut so. Inez wirkte verärgert – na ja, zumindest ungeduldig. Das war der richtige Moment. »Ich möchte direkt auf den Punkt kommen. Belinda und ich,
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