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Der Duft des Meeres

Der Duft des Meeres

Titel: Der Duft des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angie Frazier
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her, dann nickte er und zog seinen Ladenkittel aus. Vielleicht wusste er, dass er still sein musste. Vielleicht fühlte er sich zu unbehaglich, um überhaupt etwas zu sagen. Camille wollte es nicht glauben – der Mann, der sie aus dem Porzellangeschäft und die Straße hinaufführte, war ihr Bruder. Ihr Halbbruder. Und in seinen Adern floss Stuart McGreenerys Blut.
    Das Haus, zu dem Samuel sie führte, lag auf dem Gipfel eines kleinen Hügels ungefähr fünf Minuten von den Docks und dem Porzellangeschäft entfernt. Die Luft war noch immer schwer und erfüllt von dem widerlichen Geruch von Fischen und Algen. Camille bewegte sich wie in Trance. Das braune Seegras unter ihren Füßen machte einem mit Backsteinen gepflasterten Weg Platz, als Samuel ein verbeultes Gartentor aufschwang. Alle schwiegen, während sie den Weg bis zur Haustür zurücklegten. Camille konnte nicht glauben, dass ihre Mutter dort drin sein sollte. In wenigen Sekunden würde sie die Frau sehen, die sie immer verloren geglaubt hatte. Verloren und unter siebzehn Jahren Lügen begraben. Sie knirschte mit den Zähnen, um nicht zu weinen.
    »Mutter ist oben«, sagte Samuel, nachdem sie alle durch die Tür getreten waren. Die niedrigen Decken ließen nur vier oder fünf Zentimeter Platz zwischen Oscars Kopf und den grob behauenen Holzbalken. Die unebenen weißen Gipswände waren an manchen Stellen ausgebessert und mit Porträts, die in mit Perlmutt eingelegten Rahmen steckten, grünen Glasbojen und Gemälden des Ozeans geschmückt. All diese Dinge erinnerten Camille an ihren Vater, und sie fragte sich, ob sie ihre Mutter auch an ihn erinnert hatten.
    »Sie kann nicht einmal mehr in die Stadt gehen«, bemerkte Samuel zu Camille. Er sprach mit ihr, als sei sie die Einzige in seiner Begleitung. »Ich weiß nicht, wie sie es so lange geschafft hat. Der Arzt sagt, die Schwindsucht hätte sie schon vor Monaten dahinraffen müssen.«
    Hatte ihre Mutter auf sie gewartet? Auf ihren Vater? Oder hatte sie für jemand anderen durchgehalten? Für Stuart McGreenery? Camille wandte sich der schmalen Treppe zu, deren Stufen ausgetreten und steil waren. Das Haus war weit entfernt von der Pracht des Stadthauses in San Francisco. Ihre Mutter hätte ein so viel wohlhabenderes Leben geführt, wäre sie geblieben. Obwohl ihr Vater niemals ein Baby akzeptiert hätte, das nicht sein eigenes war, oder vielleicht doch?
    »Ich werde ihr sagen, dass du da bist«, erklärte Samuel und stieg die Treppe hinauf. Als seine muskulöse Gestalt hinter der Biegung im Treppenhaus verschwand, ließ Oscar die Schultern sinken. Er stieß einen Seufzer aus und wandte sich zu Camille um.
    »Denkst du, er weiß es überhaupt?«, flüsterte Oscar.
    Ira ließ sich aufs Sofa fallen. »Was soll er wissen?«
    »Sie hatten offensichtlich nie das Vergnügen, Stuart McGreenery kennenzulernen«, sagte Camille.
    Ira schnaubte. »Ich würde den Bastard jetzt gewiss gern kennenlernen, so viel steht fest.«
    Die Decke über ihren Köpfen knarrte unter dem Gewicht von Samuels Schritten. Eine Tür wurde leise geöffnet und geschlossen.
    »So wie es aussieht«, meinte Camille und suchte in Oscars Gesicht nach einer Bestätigung, »haben Sie gerade seinen Sohn kennengelernt.«
    Ira rutschte an den Rand des Sofakissens. »Heilige Scheiße! Sie meinen, McGreenery, dieser Dreckskerl, und Ihre Mutter haben damals Ihrem Vater Hörner aufgesetzt?«
    Camille konnte weder Ira noch Oscar ansehen. Sie fühlte sich vollkommen übertölpelt und kam sich vor wie eine Närrin. Sie ging zu dem geschwärzten Herd, in dem ein kleines Feuer langsam herunterbrannte. Die Tür oben öffnete sich und Schritte knarrten wieder über die Zimmerdecke. Samuel kam die Treppe herunter und blieb auf der letzten Stufe stehen.
    »Sie erwartet dich«, sagte er.
    Camilles Knie verwandelten sich in Gummi. Sie erhaschte einen Blick auf sich selbst in einem ovalen Spiegel, der neben der Tür hing. Ihr zerzaustes Haar war schmutzig und verheddert. Es musste dringend gewaschen und gebürstet werden. Und ihr Kleid! Es war nicht nur schrecklich unmodern, es hätte auch geschrubbt und geflickt werden müssen.
    »Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich kann mich doch so nicht bei ihr sehen lassen.«
    Ira, der die Füße jetzt vor sich auf den Tisch gelegt hatte, gab vom Sofa her ein unverständliches Brummen von sich. »Zum Kuckuck damit. Sie ist Ihre Mutter.«
    Samuel stellte einen Fuß auf die nächste Stufe. Er wollte Camille offensichtlich hinaufführen.

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