Der Duft des Meeres
lieferte wohl gerade die Kiste ab, überlegte Camille, während sie nach einem Weinglas griff. Sein Stiel war so zart, dass ein unbedachter Druck ihn vielleicht zerbrechen würde.
»Vorsichtig«, erklang eine Stimme aus dem Hinterzimmer. Camille schaute auf und sah einen Mann durch die Tür treten. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und schob eine hohe Kiste auf die Theke.
»Die sind eher zum Anschauen, als um sie tatsächlich zu benutzen«, sagte er über seine Schulter gewandt. Camille stellte das Glas vorsichtig zurück aufs Regal. Der Mann drehte sich um und nahm ein Stemmeisen von der Theke.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte er. Camille wollte etwas erwidern, aber als sie sein Gesicht zum ersten Mal von vorn sah, verstummte sie.
Er war ein Junge, kein Mann, wenn auch hochgewachsen und breitschultrig. Er schaute ihr in die Augen, während er sich daran machte, den Deckel von der Kiste zu hebeln, aber dann hielt er sofort wieder inne. Er ließ das Stemmeisen fallen und starrte Camille an. Die Haare in ihrem Nacken stellten sich auf, während sie in seine dunklen mandelförmigen Augen sah und den Fall seines glänzenden schwarzen Haars betrachtete. Und seinen Mund. Diese Lippen. Sie hatte sie schon Tausende von Malen gesehen.
»Wer bist du?«, flüsterte sie. Oscar und Ira und der Rest des Ladens waren wie ausgeblendet. Camille betrachtete seine Nase, den leichten Höcker in der Mitte. Sie berührte mit den Fingerspitzen ihre eigene Nase und spürte ihren eigenen schwachen Höcker.
»Samuel«, antwortete er mit stockender Stimme. »Du bist es. Du bist Camille.«
Er kam um die Theke herum und wischte sich die Hände an seinem Ladenkittel ab. Sie zwang sich zu sprechen. »Woher kennst du meinen Namen?«
»Das weißt du nicht? Sie hat deinem Vater vor Monaten einen Brief geschickt.«
Samuel drehte sich dann zu Ira um. »Sind Sie William Rowen?«
Ira schaute hinter sich, über jede Schulter, dann schnaubte er. »Ich? Ihr Vater? Ich werde so tun, als hätten Sie das nie gefragt.«
»William ist tot«, erklärte Oscar und starrte den Jungen ungläubig an. Auch er sah die Ähnlichkeit, begriff Camille.
Samuel öffnete die Lippen und schaute wieder zu Camille hinüber. »Es tut mir leid. Das wusste ich nicht.«
»Wir suchen Caroline Rowen«, sagte sie. Ihr Puls raste noch immer. »Sie ist meine Mutter. Sie hat meinem Vater den Brief geschickt.«
Er nickte und bewegte die Kiefer. »Sie heißt nicht mehr Rowen. Sie heißt McGinty. Caroline McGinty.«
»Woher kennst du sie?«, fragte Camille, obwohl sie Angst vor der Antwort hatte.
Er schlug die Hände zusammen und beugte sich zurück.
»Ich habe nicht erwartet, dass ich dir das würde sagen müssen. Ich dachte mit Bestimmtheit, dass dein Vater es getan hätte«, erklärte er. Camille starrte ihn weiter an. Er seufzte leise. »Sie ist auch meine Mutter.«
Tränen stiegen Camille in die Augen und in ihrem Kopf drehte sich alles. Und das war der Moment, in dem sie es sah. Sein Kinn. Die tiefe, dunkle Kerbe, die sie nur bei einem einzigen anderen Mann je zuvor gesehen hatte, einem Mann, den ihr Vater verachtet hatte. … was ich in Schande mit mir nach Australien genommen habe. Die Worte, die ihre Mutter in dem Brief geschrieben hatte. Worte, die Camille vollkommen falsch verstanden hatte. Nicht die Karte zum Umandu war gemeint – nichts, was sie in den Händen tragen konnte. Sie hatte ihre Schande in sich getragen. Ein Baby. Stuart McGreenerys Baby.
Kapitel 15
Oscar fing Camille gerade rechtzeitig auf. Er gab ihr Halt und verhinderte, dass sie fiel. Samuel beobachtete sie voller Unbehagen. Die Kerbe und seine Augen, schwarz wie Pupillen, waren beide ein Abbild der Züge McGreenerys.
»Du bist sechzehn«, flüsterte sie. Samuel nickte. Vor sechzehn Jahren hatte ihre Mutter San Francisco verlassen. Der Zeitpunkt, der Grund, die Briefe. Es hätte jetzt nicht klarer sein können. Es ergab alles einen Sinn. Aber wie hatte ihre Mutter etwas so Schreckliches tun können? Wie konnte sie Camilles Vater mit einer Ratte wie Stuart McGreenery untreu geworden sein?
»Weißt du, wer dein Vater ist?«, fragte Camille Samuel, bevor sie innehalten und nachdenken konnte. Kannte er die Wahrheit, oder hatte ihre Mutter Samuel Informationen vorenthalten, genau wie Camilles Vater es mit ihr gemacht hatte? Oscar trat neben sie.
»Wie wäre es, wenn du uns zu ihr bringen würdest?«, sagte Oscar. »Zu deiner Mutter.«
Samuel schaute zwischen Camille und Oscar hin und
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