Der Duft des Meeres
Meine Mutter, dachte sie, glättete mit den Händen ihren Rock und versuchte, sich das Haar zurückzustreichen. Ein Grund mehr, so gut wie möglich auszusehen. Camille wollte, dass ihre Mutter sah, was sie zurückgelassen hatte und all die Jahre, die sie verloren hatte. Sie wollte, dass sie sah, dass Camille, obwohl sie nie eine Mutter gehabt hatte, sehr gut zurechtgekommen war. Dass sie überlebt hatte und stark und tüchtig war, auch wenn sie sich im Moment nicht so fühlte.
»Willst du, dass ich dich begleite?«, fragte Oscar. Camille hätte am liebsten Ja gesagt, schüttelte jedoch den Kopf. Das musste sie allein tun.
Samuel führte Camille die steile Treppe hinauf. Ihre Füße passten kaum auf die Stufen, so schmal waren die Bretter, und in dem engen oberen Stockwerk waren die Decken noch niedriger als im Wohnzimmer. Zwei Fenster, eins an jedem Ende des Flurs, beleuchteten einen bunt gemusterten Läufer.
Frisch versprühter rosa Moschus hing schwer in der Luft, zusammen mit etwas Ungesundem, das sich in Camilles Kehle festsetzte. Ihre Mutter müsste inzwischen eigentlich schon tot sein, hatte Samuel gesagt. Camille spürte, dass Caroline Rowens Körper schneller verfallen war als ihr Wille.
Samuel blieb an einer Tür stehen und klopfte mit der Faust zweimal dagegen.
»Komm herein«, antwortete eine leise Stimme. Camilles Herz machte einen Satz, dann verlangsamte es sein Tempo. Samuel stieß die Tür auf und trat beiseite. Camille begegnete seinem Blick, sah die Unsicherheit in seinen Augen, dann drehte er sich um und ging zur Treppe zurück. Er begleitete sie nicht.
»Komm herein«, erklang erneut die leise Stimme. Camille öffnete die Tür ganz.
Eine Frau wiegte sich langsam in einem Schaukelstuhl am Fenster, eine smaragdgrün und purpurn gemusterte Steppdecke über Beine und Füße gebreitet. Ihr langes ebenholzschwarzes Haar, das sie zu einem losen Knoten zurückgebunden trug, war von weißen Strähnen durchzogen. Caroline McGinty sah ihre Tochter nicht an, sondern hielt den Blick auf ihre auf dem Schoß gefalteten Hände gerichtet. Camille fragte sich, ob sie sie hatte hereinkommen hören. Aber dann begannen die Schultern ihrer Mutter zu zittern, ihr Kinn bebte, und ihre Lippen verzogen sich zu einer dünnen Linie. Sie schluchzte, als sie endlich den Kopf hob und Camille ansah.
»Oh«, stieß ihre Mutter hervor und drückte sich ein Taschentuch auf den Mund. Camille starrte die Frau an, die auf dem Porträt im Arbeitszimmer ihres Vaters stets vollkommen still und leblos gewesen war. Camille dachte nicht weiter. Sie durchquerte den Raum und öffnete die Arme. Ihre Mutter umarmte sie und drückte sie an sich, und sie zitterte noch heftiger, während frische Tränen fielen.
»Oh, mein Liebling«, flüsterte sie in Camilles strähniges, von der Reise schmutziges Haar. »Es tut mir so leid. So leid.«
Camille staunte über das Gefühl, in den Armen ihrer Mutter zu liegen. Sie wollte sich nicht bewegen, sie wollte niemals aufhören, ihre Mutter zu umarmen. In diesem Moment hätte sie ihr alles verziehen. Der Griff ihrer Mutter löste sich, und Camille spürte, dass es Zeit war zurückzutreten, Zeit, endlich zu reden. Ihre Mutter wischte ihre Tränen weg, während Camille sich räusperte und schniefte.
»Ist es nicht seltsam?«, begann ihre Mutter. »Ich habe so lange darauf gewartet, dich wiederzusehen. Ich habe fast jeden Tag davon geträumt, wie du vielleicht aussehen magst. Was ich sagen würde, wenn ich die Chance bekäme, dir von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Und hier stehst du vor mir, und ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll.«
Ihre Mutter holte mühsam Atem. Die Lippen, die auf dem Porträt so voll und rot gewesen waren, waren jetzt dünn, aschfahl und rissig.
»Mein Vater ist tot«, platzte Camille heraus, ohne nachzudenken. »Wir haben auf dem Weg hierher mit der Christina Schiffbruch erlitten.«
Die schlaffen Muskeln im Hals ihrer Mutter spannten sich an und das vergilbte Weiß ihrer Augen zeigte ihre Krankheit. Es war, als flösse das Leben aus ihr heraus, noch während sie sich unterhielten.
»Samuel hat mir erzählt, dass er gestorben ist, aber mir war nicht bewusst, dass es auf dem Weg hierher passiert ist. Ich habe mir so sehr gewünscht, ihm zu sagen …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich gesagt hätte. Aber ihn noch einmal zu sehen und die Dinge auf die richtige Weise zu beenden, ein für alle Mal … Ich wünschte, ich hätte das tun
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