Der Duft des Regenwalds

geweckt wurde, trank dann noch schnell zwei Becher Kaffee und schwang sich nach einer kurzen Wäsche mit kaltem Wasser wieder in den Sattel. Ihr fiel auf, dass sie kaum anders lebte als die Frauen der Carreteros. Für ein paar Tage ließ es sich aushalten. Erstaunlicherweise war sie sogar stolz auf ihr Durchhaltevermögen. Vielleicht würde Andrés sie weniger belächeln, wenn sie ihm davon erzählte.
    Eine Woche später hatten sie wieder das flache, tropische Land erreicht. Üppige, feucht glänzende Natur wucherte, so weit das Auge reichte, und manchmal musste man mit scharfen Macheten ein Vorankommen ermöglichen. Alice wurde von Mückenstichen geplagt. Zwar hängte sie nachts sorgfältig das Moskitonetz auf, sogar wenn sie in einem Zelt schlafen musste, doch die Ameisen waren in der Lage hineinzukriechen. Ihre Bisswunden schmerzten noch stärker und verursachten Schwellungen an ihren Füßen, die es zur Qual machten, sich am nächsten Morgen in die Huaraches zu zwängen. Sie musste an die warnenden Worte von Juan Ramirez denken. Für dieses Abenteuer war sie nicht geschaffen, aber nun gab es keinen Weg zurück. Im Schlaf träumte sie, kühle, frische Luft einzuatmen, auf einem schneeweißen Laken zu liegen oder durch gezähmte, liebliche Natur, wie sie in Gärten und Parks zu finden war, zu wandeln. Im Wachzustand begannen ihre Nerven sich in dünne, zerschlissene Fäden zu verwandeln. Der Anblick eines am Straßenrand verendenden Hundes, an dessen offenen Wunden zahllose Würmer wie Zotteln hingen, obwohl seine Brust sich noch hob und senkte, reichte schließlich, um sie nach Mariana rufen zu lassen. Ihr Schoßhund kam sogleich verstört herbeigeeilt.
    »Wir erreichen bald eine kleine Stadt«, sagte der Archäologe, der sein Pferd neben das ihre gelenkt hatte. Alice nickte. Sie benahm sich wie ein hysterisches Weibchen und hasste sich dafür.
    Sie gelangten schließlich in einen kleinen Ort namens Santo Dominge de Palenque, der ungefähr sechs Kilometer neben der Ruine lag. Er bestand nur aus einer Ansammlung ärmlicher Häuser, doch Alice wurde wieder ein Bett mit Matratze, Decke und Moskitonetz in einer Herberge zur Verfügung gestellt. Dr. Scarsdale unterhielt sich am nächsten Tag kurz mit dem Alkalden, wie hier der Bürgermeister hieß, dann erhielten sie ein paar weitere Lastenträger und konnten sich durch den Dschungel schlagen. Nun gab es nicht einmal mehr die Ahnung einer Straße, nur schmale Pfade durchs Dickicht. Bäume so hoch wie die Türme von Kathedralen ragten in einen wolkenverhangenen Himmel. Die Luft war feucht und angenehm zu atmen. Das Schreien von Affen war zu hören, doch keines der Tiere ließ sich blicken, als seien sie ebenso misstrauisch gegenüber den Eindringlingen, wie Alice es in dieser fremden Welt war. Bald wären sie am Ziel, jenem Ort, von dem Patrick so lange geträumt hatte. Sie überlegte, ob sie nur Grauen empfinden würde angesichts der uralten Bauwerke einer blutrünstigen Kultur inmitten dieser übermächtigen Natur, die wie ein Zauberwald schien. Unbekannte Mächte herrschten darin, betörten das Auge durch Größe und Farbenpracht, konnten aber im selben Augenblick den Tod bringen.
    Dann tauchten eines Abends, als das Glühen der Sonne endlich schwächer zu werden begann, hohe Mauern inmitten des allmächtigen Dschungelreichs auf, als hätten Menschen beweisen wollen, dass es zu besiegen war. »Palenque«, verkündete Dr. Scarsdale, der an ihrer Seite ritt. »Wir sind endlich am Ziel. Leider ist es bisher noch nicht gelungen, die gesamte Anlage freizulegen.«
    Alice erkannte, dass einige Gebäude noch in der Umarmung riesiger Baumwurzeln lagen und Lianen an ihnen entlangkrochen. An manchen Stellen hatte der Dschungel die zurückeroberten Mauern mit leuchtenden Blüten geschmückt. Sie sehnte sich nach ihrem Skizzenblock und war erstmals erfreut über die Aussicht, dass sie wahrscheinlich längere Zeit an diesem Ort verbringen würde. Sie hatte nichts weiter als ein paar Ruinen und herumliegendes Geröll erwartet, doch nun wurde sie von einer weitflächigen Anlage aus Türmen und dicken, wehrhaften Steinmauern empfangen, die entfernt an eine mittelalterliche Festung erinnerten und am Fuß eines Berges lagen, der hinter ihnen in Richtung Himmel wuchs.
    »Das große Gebäude zu unserer rechten Seite wird der Königspalast gewesen sein. Man kann noch vereinzelte Gemächer betreten, obwohl das meiste natürlich bereits eingestürzt ist. Weiter vorn sehen Sie drei Tempel.