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Der Duft des Regenwalds

Der Duft des Regenwalds

Titel: Der Duft des Regenwalds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Zapato
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Leider kennen wir die Religion der alten Maya kaum und wissen daher auch nicht, welche Götter hier verehrt wurden.«
    Alice sah sich um. Ein Gefühl von Ehrfurcht erfasste sie, denn sie betrat eine fremde, magische Welt und begann zu ahnen, weshalb diese archaische Kultur einen so großen Zauber auf Menschen anderer Kontinente ausübte, dass sie ihre Heimat verließen und ihr Vermögen opferten, um sie zu erforschen. Zu ihrer linken Seite führten hohe, wuchtige Stufen zu einem Gebäude, das deutlich kleiner war als die anderen Anlagen, aber eine seltsame Anziehungskraft auf Alice hatte und zudem Ausblick auf den Dschungel versprach. Sie hörte Dr. Scarsdale rufen, ignorierte ihn aber. Nun, da er sein Ziel erreicht hatte, würde sie sich nicht mehr nach ihm richten und in Ruhe jenen Ort erkunden, an dem ein wildes, mächtiges Volk seine Spuren hinterlassen hatte. Beim Erklimmen der Stufen begannen die Muskeln ihrer Oberschenkel schon bald zu brennen, aber Alice kämpfte sich keuchend nach oben, bis der Dschungel wie ein sattgrünes Meer unter ihr lag. Sie stand nun unmittelbar vor einem dieser fremden, uralten Gebäude und betrat einen dunklen Raum, in dem es modrig roch. Als ihre Augen sich an das dämmerige Licht gewöhnt hatten, sah sie, dass die Wände mit Reliefs verziert waren. An manchen Stellen bröckelten sie bereits, doch Alice bewunderte die wie Schneckenhäuser ineinander verschlungenen Umrisse von Zeichnungen, denen ein ihr unbekanntes Empfinden von Ästhetik zugrunde lag. Die im Seitenprofil dargestellten Menschen hatten lang gezogene Ohrläppchen, in denen breite Ringe hingen, und auf ihren Hinterköpfen türmten sich verzweigte Gebilde. Die deutlich markanten, gekrümmten Nasen weckten plötzlich Erinnerungen an Andrés. Es verwirrte Alice, dass er, der moderne Maschinen liebte, diesem uralten, wilden Volk entstammen sollte. Langsam drehte sie sich um ihre eigene Achse, um die archaische Pracht an den Wänden zu bewundern. Die Zeit schien stillzustehen, und Alice versank in einer Welt, die seit Jahrhunderten nicht mehr existierte.
    Rufe weckten sie aus ihrer Entrücktheit, doch erst Marianas vertrautes Bellen lockte sie wieder ins Freie. Als sie nach unten blickte, wurde ihr schwindelig, denn sie stellte fest, wie steil die Stufen waren. Sie bewegte sich seitwärts zu den zwei benachbarten Gebäuden, in der Hoffnung, dass von ihnen aus ein leichterer Abstieg möglich wäre, wurde aber enttäuscht. Sobald sie nach unten blickte, lag ein Abgrund zu ihren Füßen. Sie wandte sich um, da sie sich von dem Anblick der soliden Mauern des Gebäudes Beruhigung versprach, doch dann erschauerte sie. Ein winziges Stück neben ihr war ein Totenkopf in die Wand gemeißelt worden, der sie finster und fast höhnisch anstarrte. Hastig trat sie auf die Stufen zu, geriet aber auf der ersten ins Rutschen. Sie taumelte und schaffte es mit rudernden Armen, ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Der Abgrund zu ihren Füßen glich einem gierigen Schlund, der sie um ein Haar verschlungen hätte. Mit grimmiger Entschlossenheit kämpfte sie die aufsteigende Panik nieder und trat den Abstieg an, indem sie vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf die Stufen setzte und keinen Augenblick vergaß, darauf zu achten, wohin sie trat. Unter ihr rannte Mariana aufgeregt hin und her. Alice stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, als sie endlich wieder auf der grasbewachsenen Erde stand. Mariana sprang freudig an ihr hoch.
    »Sie waren im Tempel der Inschriften und wanderten dann zwei Gebäude weiter zum Totenkopftempel«, kommentierte Dr. Scarsdale tonlos ihren Ausflug. Dass sie von einem dieser Tempel beinahe in die Tiefe gestürzt wäre, hatte er entweder nicht bemerkt oder hielt es nicht für erwähnenswert.
    »Der Tempel der Inschriften ist das kleinste, aber, wie ich vermute, auch bedeutendste dieser Gebäude«, dozierte er weiter. »Es dürfte ein Ort besonderer kultischer Handlungen gewesen sein, daher die vielen Zeichen an den Wänden. Wenn es uns nur möglich wäre, sie zu entziffern! Die Antwort auf so viele Fragen steht dort vor unseren Augen, doch sind wir hilflos wie kleine Kinder, die die Kunst des Lesens noch nicht beherrschen.«
    Alice kletterte wieder in ihren Sattel. Die Lust am Betrachten von Ruinen war ihr fürs Erste vergangen.
    Am hinteren Ende der Anlage war ein Lager aufgebaut worden, aus dem Leute herbeigelaufen kamen, um beim Abladen des Gepäcks zu helfen. Alice sah sich beklommen um. Hier also würde

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