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Der Duft des Regenwalds

Der Duft des Regenwalds

Titel: Der Duft des Regenwalds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Zapato
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mitbekommen, dass Dr. Scarsdale den Lastenträgern so viel zahlte. »Außerdem Essen. Und schlafen kannst du auch hier bei mir und dem Hund.«
    »Wie viel wird mir dafür abgezogen? Ich kann auch im Freien schlafen«, erwiderte er. Alice stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf. Was sollten diese Verhandlungen?
    »Du schläfst und isst umsonst und bekommst dein Geld. Hast du das verstanden?«
    »Sí Señorita!« Nun war es endlich da, das glückliche Lächeln. Es verwandelte ihn für einen Moment wieder in das Kind, das er viel zu früh aufgehört hatte zu sein.
    Bereits am nächsten Tag begannen die Arbeiten an der Ruine. Für die anwesenden Arbeiter bestanden sie vor allem darin, die drei in Kreuzform angelegten Tempel von Baumwurzeln und Geäst zu befreien, ohne sie dabei zu beschädigen. Die stets Anweisungen brüllenden Aufseher schienen nicht das nötige Feingefühl zu besitzen, um dies gewissenhaft zu überwachen, sodass Dr. Scarsdale persönlich auf und ab ging, damit kein Unglück geschah. Alice war indessen sich selbst überlassen, und in Ermangelung einer anderen Beschäftigung spazierte sie in den bereits freigelegten Bereichen herum. Der Totenkopftempel war ihr unheimlich, doch in dem Palastgebäude wurde sie wieder von der Magie uralter Rituale betört, von denen die Reliefs erzählten. Sie verlor sich in den runden, verschnörkelten Formen, die Gesichter darstellten und gleichzeitig Schriftzeichen sein konnten. Der Skizzenblock wurde zu ihrem steten Begleiter, als sie versuchte, sich das Leben in diesem Palast auszumalen, der von Höflingen, Damen und Dienern bevölkert gewesen sein musste wie ein mittelalterlicher Fürstenhof. Manchmal glaubte sie, die Gegenwart längst verstorbener Menschen als einen Lufthauch zu spüren, der sie streifte, doch die Bilder in ihrem Kopf wollten keine klare Gestalt annehmen. Indios kannte sie als Bauern, schlicht, schmutzig und manchmal auch sehr schlau. Sie konnte sie sich nicht als jene Herrscher und Aristokraten vorstellen, die sie einst gewesen waren. Welche Kleidung hatten sie getragen? Die königlichen Damen mussten geschmückt gewesen sein. Ihr fiel nichts weiter ein als die Kette um Ix Chels Hals. Vielleicht sollte sie die Frau ihres Bruders als Königin malen. Sie setzte sich vor einer Mauer hin und versuchte, die fließenden Formen einer Wandfigur mit einem schlichten Bleistift auf ihrem Block wiederzugeben. Bereits der verschnörkelte Kopfputz kostete sie erhebliche Konzentration. Die Figur hielt einen Stab in der Hand, und zwei Gestalten, deren Köpfe im Laufe der Jahrhunderte abgebröckelt waren, kauerten zu ihren Füßen. Bei einer dieser gesichtslosen Personen glaubte Alice den Ansatz von Brüsten zu erkennen. Es handelte sich vermutlich um eine Frau. Alice konnte kaum Zeichen von Bekleidung entdecken, allein der aufrechte Sieger trug einen Lendenschurz, und seine Schultern waren bedeckt, ob von einem Tuch oder einem Schutzpanzer, vermochte sie nicht zu beurteilen. Selbst die Vornehmen des Landes hatten luftige Kleidung getragen, was angesichts der Temperaturen ein Segen für sie gewesen war. Alice zeichnete eifrig weiter, und ihr schien, dass mit jedem Strich, den sie tat, um ein uraltes Relief zu kopieren, jene fremde, versunkene Welt ihr ein klein wenig näherkam. War es Patrick ebenso ergangen, als er seine Skizzen für Dr. Scarsdale anfertigte? Ihr fiel ein, dass sie sich auf ähnliche Weise nützlich machen konnte, um den Archäologen mit ihrer unerwünschten Anwesenheit in Palenque zu versöhnen.
    Julio, der es genoss, als ihr persönlicher Diener keine schweren Arbeiten ausführen zu müssen, war zum Lager gelaufen, um Kaffee und ein paar Früchte zu holen, denn Alice wollte bis zur Abenddämmerung in der Palastruine bleiben. Mariana schlief neben ihr in der Sonne. Alice wurde von ihrer Trägheit angesteckt, legte den Skizzenblock zur Seite und schloss für einen Augenblick die Augen. Hinter ihren Lidern tanzten die Sonnenstrahlen als helle Flecken. Alice sah kleine braune Gestalten in Wickelröcken, auf deren Köpfen sich kunstvolle Gebilde türmten. Sie huschten herum, flüsterten, lachten, riefen manchmal Worte, die sie hören, aber nicht verstehen konnte. Mitten unter ihnen entdeckte sie eine Frau mit einer Kette aus großen, ungeschliffenen Edelsteinen um den Hals, die ihr vertraut vorkam. Sie wollte aufstehen und auf die Frau zugehen, doch ihre Füße gehorchten ihr nicht mehr, und ihre Stimme wurde von den Anwesenden nicht wahrgenommen, sie

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