Der Duft des Regenwalds
Menschen war.
»Ganz so einfach ist es nicht«, entgegnete Andrés. »Am Anfang habe ich hier nur die Ladinos verstanden. Die Indios in dieser Gegend gehören zum Stamm der Chol. Ich selbst kann nur Tzotzil. Aber da ich eine Weile mit ihnen an den Ruinen arbeitete, kennen sie mich und haben begriffen, dass ich in Schwierigkeiten stecke. Mit Modesta, so heißt die Frau, die mir Essen bringt, kann ich mich inzwischen ganz gut verständigen.«
»Aber ist es nicht gefährlich, sich in einer Ruine zu verstecken? Dr. Scarsdale lässt sie doch alle erforschen«, fragte Alice weiter. Wenn der Archäologe herausbekam, wen sie hier heimlich besuchte, hätte sie seine neu gewonnenen Sympathien schnell wieder verspielt.
»Die großen Bauwerke werden den Doktor eine ganze Weile beschäftigen, sodass er sich nicht weiter umsehen wird. Dabei liegen viele Schätze in abgelegenen Ecken verborgen. Diese Ruine war sicher nur das Heim unbedeutender Leute, aber ich habe einiges gefunden.«
Er deutete zu mehreren Gegenständen, die neben ihm aufgereiht waren. Alice hatte sie für Felsbrocken gehalten, doch als er die Fackel auf sie richtete, erkannte sie kauernde Figuren mit merkwürdigen Gesichtern, die sie an die Wasser speienden Gargoylen mittelalterlicher Kathedralen erinnerten.
»Der hier hat den Kopf einer Fledermaus«, erklärte Andrés und strich mit den Fingern über die glatte Oberfläche. »Das sieht wie ein Schakalgesicht aus. Einige sind innen ausgehöhlt, als seien sie Gefäße gewesen.«
Er schob mehrere Fundstücke in Alice’ Richtung.
»Sie können all das Dr. Scarsdale bringen. Sagen Sie, Sie hätten es selbst gefunden. Er kann sicher mehr damit anfangen als wir beide zusammen, und es wäre schade, wenn diese Figuren hier im Urwald vermoderten.«
Seine Augen glänzten im Licht der Fackel wie polierter Obsidian. Alice begriff, wie sehr das Forscherfieber auch ihn erfasst hatte.
»Ich dachte, Sie halten die Untersuchung uralter Ruinen für unsinnig«, sagte sie spöttisch. Andrés runzelte seine glatte Stirn.
»So war es am Anfang, als ich unter dem Befehl der Aufseher schuftete. Aber würde es Ihnen gefallen, für Dr. Scarsdale zu zeichnen, wenn er dabei die Peitsche über Ihnen schwingt?«
Die Vorstellung ließ sie zusammenfahren.
»Nein, mit Sicherheit nicht!«
Sie staunte selbst, mit welcher Vehemenz sie gesprochen hatte. Andrés grinste.
»Das dachte ich mir!« Er lachte leise. »Patrick sagte, dass Sie jedem Mann, der Ihnen Befehle erteilen will, gleich eine geballte Ladung Zorn entgegenschleudern.«
Ihr war nicht klar, ob dies ein Lob oder ein Vorwurf sein sollte.
»Sind Sie deshalb immer so höflich? Weil Sie Angst haben, ich könnte Ihr Gesicht zerkratzen?«
Nun lachte er noch mal auf angenehme, entspannende Weise.
»Ich war neugierig auf Sie, Miss Wegener, das gebe ich zu. Eine wunderschöne Frau, die von Männern angebetet werden könnte, geht einfach von ihrer Familie fort. Lässt alles hinter sich, als hätte sie niemals Liebe für ihre Angehörigen empfunden. Lebt nur noch für sich selbst und die Dinge, die sie tun will. Offen gesagt, hätte ich nicht gedacht, dass Frauen dazu fähig sind. Im Geist sah ich Sie als Kreatur mit scharfen Krallen und Zähnen, eine Art Raubtier.«
Alices verschränkte ihre Arme wie einen Schutzpanzer vor ihrer Brust. Auf so akkurate und gleichzeitig schonungslose Weise hatte bisher niemand ihr Verhalten beschrieben. Sie hörte sich keuchen. Warum fühlte sie sich so schnell in die Ecke gedrängt?
»Sie verließen ebenfalls Ihre Familie, um Ingenieur zu werden«, erwiderte sie.
»Ich hatte meine Gründe. Mein Vater glaubte an die uralten Traditionen unseres Volkes, doch dessen Blütezeit ist vorbei. Deshalb stehen hier nur noch Ruinen. Ich wollte den Weg in die Moderne gehen, der ganzen Welt beweisen, dass ein gewöhnlicher Indio wie ich es ebenso schaffen konnte wie die Söhne der Kaffeebarone. Aber Sie sind als Prinzessin geboren. Warum wollten Sie kämpfen, wie Männer es tun?«
Alice lehnte sich gegen die angenehm kühle Mauer und streckte ihre Beine aus. Der Dschungel war ein fremdes Reich, das im Dunkel der Nacht Geister zum Leben erweckte. In dieser Welt, die so weit weg war von ihrem Zuhause, konnte sie tun, was sie noch nie getan hatte. Die Verliese in ihrem Inneren öffnen.
»Ich war nicht immer so zornig. Lange versuchte ich, ein gutes Mädchen zu sein. Ich hatte als Kind sehr oft Angst. Vor meinem Vater, der so mächtig war, weil alle Menschen
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