Der Duft des Regenwalds
ganz verstehen, sie spricht einen anderen Dialekt. Aber jemand wartet da draußen im Wald auf Sie. Es klang, als wüssten Sie, um wen es geht.«
Alice sprang auf die Beine.
»Ich glaube, ich weiß es. Ich muss jetzt nach draußen gehen. Pass bitte auf Mariana auf, damit sie nicht bellt.«
Die Aufseher tranken abends gern Schnaps, und dann schliefen sie so tief und fest wie die uralten Ruinen. Es galt einfach, vorsichtig zu sein, um sie nicht zu wecken.
Sie schlich aus der Hütte. Die kleine Indio-Frau lächelte sie an und winkte. Alice folgte so leise wie möglich in das dunkle Reich des Urwalds. Sie bewunderte die Fähigkeit der Indianerin, sich geräuschlos über den Boden zu bewegen, denn unter ihren Füßen knackten Zweige so laut, dass sie fürchtete, in jedem Augenblick das ganze Lager aufzuwecken. Sie stützte sich an Baumstämmen ab, wenn sie stolperte, und versuchte, die Gestalt vor ihr nicht aus den Augen zu verlieren, denn ihr graute vor der Vorstellung, allein in einem nächtlichen Urwald zurückzubleiben. Ob sie aus diesem verwunschenen Dickicht den Rückweg ins Lager finden könnte, wurde mit jedem Schritt fraglicher. Die Nacht war laut in dieser Wildnis, sie zischte, kreischte und fauchte, als liefen Myriaden von Geistern herum. Es ging bergab. Ein Wasserfall schoss in die Tiefe. Alice musterte das aufglimmende Licht von Sternen, die sich auf den Fluten spiegelten, und atmete Feuchtigkeit. Das Zischen und Tosen übertönte alle anderen Laute des Regenwalds. Kurz blickte sie zum Himmel hoch, den die Bäume an dieser Stelle freigaben, und meinte, ein Meer von Lichtern zu sehen. Dieser Ort schien viel prächtiger als alle Kunstwerke, die Menschenhand jemals geschaffen hatte.
»Ven! Ven!« Die Indio-Frau zupfte an ihrem Ärmel, um Alice aus ihrer Träumerei zu reißen. Sie folgte dem Drängen. In dieser Welt verlor ein Mensch sehr schnell den Blick für das Wesentliche. War es Patrick ähnlich ergangen?
Sie erreichten schließlich einen weiteren eckigen Steinbau. Licht flackerte in einer Fensteröffnung. Alice glaubte, in längst vergangene Zeiten zu reisen, da die Ruinen bewohnt gewesen waren. Wartete ein Priester mit einem riesigen Kopfputz aus Federn darin?
»Andrés«, flüsterte die India.
»Da also versteckt er sich?«, fragte Alice auf Spanisch und erhielt einen ratlosen Blick als Antwort. Die Sprachkenntnisse der Indianerin beschränkten sich auf ein paar Wörter.
Alice blieb stehen. War dies wieder eine Falle? Sie sah sich noch einmal nach der kleinen Frau um, die ihr kaum bis zu den Schultern reichte, aber zweifellos viel kräftiger war als sie selbst. Sie hatte deren Mann das Leben gerettet, rief sie sich in Erinnerung. Vielleicht war es an der Zeit, ein bisschen Vertrauen zu diesen fremden Menschen zu fassen. Schweigend trat sie ins Innere der Ruine.
Er saß in einer Ecke neben einer brennenden Fackel. Vor ihm lag eine leere Holzschüssel, die von Domingos Frau sogleich aufgehoben wurde. Dann flüsterte die India ein paar Worte und huschte hinaus.
»Es freut mich, Sie wiederzusehen, Miss Wegener!«
Er hatte Alice sein Gesicht zugewandt, und ihr fiel auf, dass die Brille fehlte. Zerbrochen hatte sie ihm wahrscheinlich nicht mehr viel genutzt. Mit nacktem Gesicht sah er wirklich aus wie ein Indio, in seiner einst weißen, inzwischen fleckigen und zerschlissenen Stoffhose und einer Art Tunika, die fast bis zu den Kniekehlen reichte. Um seinen Kopf war ein weißes Tuch gewickelt, das sie bereits bei vielen indianischen Männern gesehen hatte. Sonst besaß er nur einen gestreiften Überwurf, den er im Augenblick als Sitzunterlage verwendete. Er erhob sich höflich, um Alice die Hand entgegenzustrecken. Sie lächelte gewohnheitsmäßig. Es war wie ein Höflichkeitsbesuch bei einem Indianer mit Manieren. Ratlos sah sie sich nach einer Sitzgelegenheit um, sank dann auf den harten Boden. Es war besser, jetzt nicht an mögliche Spinnen und Skorpione zu denken.
»Nehmen Sie doch den Poncho«, schlug Andrés vor und schob seine Sitzunterlage in ihre Richtung. Alice nahm dankend an, auch wenn dies bedeutete, dass er nun umgeben von den Kriechtieren des Urwalds auf harten Steinen saß.
»Werden Sie hier gut versorgt?«, fragte sie, um die plötzliche Stille mit Worten zu füllen. »Halten Indios denn immer zusammen? Ich finde das beeindruckend.«
Die zwei Jahre, da sie sich völlig mittellos in Berlin hatte durchschlagen müssen, hatten sie gelehrt, wie kostbar und rar die Hilfe anderer
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