Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Duft des Regenwalds

Der Duft des Regenwalds

Titel: Der Duft des Regenwalds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Zapato
Vom Netzwerk:
Elternhaus als Straßenmädchen zu enden, jener Zukunft, die der Vater ihr zum Abschied prophezeit hatte. Wie Frauen, die sie einst verachtet hatte, ihr aber geholfen hatten, eine Anstellung im Café Josty zu finden, wo ihr damenhaftes Auftreten gern gesehen war. Dass sie langsam hatte lernen müssen, ledige Mütter um ihren Kampfgeist zu bewundern, anstatt sie als gefallen zu verachten. Wie sehr ihre ganze Wahrnehmung der Welt sich Stück für Stück verschoben hatte, ebenso wie die seine, auch wenn die Richtung völlig anders gewesen war.
    Seit zwei Wochen trafen sie sich regelmäßig in der kleinen Ruine. Julio nahm es hin, ohne Fragen zu stellen. Modesta warf Alice manchmal neugierige Blicke zu, doch ihr Spanisch reichte nicht für Fragen. Alice schlief morgens etwas länger als am Anfang, aber Dr. Scarsdale schien das kaum zu bemerken. Danach überreichte sie ihm jene Figuren, die sie angeblich selbst in den Ruinen entdeckt hatte, während sie Zeichnungen anfertigte. Falls ihr Glück als Schatzsucherin ihn erstaunte, so äußerte er sich nicht dazu, denn seine Begeisterung beanspruchte ihn zu sehr. Sie hatte allerdings beschlossen, ein paar Tage mit leeren Händen zurückzukommen, damit er nicht doch noch misstrauisch wurde.
    »Vielleicht nehmen Sie diese Figur hier noch«, schlug Andrés vor und polierte ein tönernes Fledermausgesicht mit einem Tuch. »Sie ist etwas größer als die bisherigen und völlig unbeschädigt. Ebenfalls ausgehöhlt. Ich glaube, in diesen Figuren wurde Weihrauch verbrannt. Vielleicht bei rituellen Festen zur Anbetung der Götter.«
    Alice warf einen Blick auf das Gesicht der Statue. Dass es von großem künstlerischen Geschick seiner Schöpfer zeugte, vermochte sie nicht zu leugnen. In seiner archaischen Wildheit wirkte es wie ein mahnender Hinweis auf überirdische dunkle Mächte. Unbehagen stieg in ihr auf, und gleichzeitig fiel ihr ein, an welchen Orten in Mexiko dieses Gefühl sie bereits beschlichen hatte.
    »Weihrauch wird bei katholischen Messen verbrannt. Vielleicht denken Sie da zu modern.«
    Er schüttelte leise lachend den Kopf.
    »Nein, ich denke völlig zeitgemäß. Meine Leute haben Ihre Religion angenommen, da sie ihnen aufgedrängt wurde. Aber sie legten sie auf ihre eigene Weise aus, vielleicht weil sie Übereinstimmungen zu ihren alten Kulten erkannten, die kein katholischer Priester jemals zugegeben hätte. Unsere Feste beginnen meist ein paar Tage vor dem eigentlichen Feiertag. Da verehren wir unsere alten Götter, denn wir wollen sie ja nicht verärgern. Sie gehören nur uns, während wir uns den Christengott und all seine Heiligen mit den Ladinos teilen müssen, die er immer bevorzugt hat.«
    Sie war bereits im Begriff gewesen aufzustehen, doch seine Worte hielten sie zurück, denn sie hatten Neugierde in ihr geweckt.
    »Wie sehen sie denn aus, diese alten Kulte?«
    »Nicht wesentlich anders als die christlichen, jedenfalls bei uns.«
    Andrés lehnte sich an die Wand der Ruine und streckte die Beine aus. Das Licht der Fackel flackerte über sein Gesicht. Alice wurde plötzlich bewusst, dass er ohne die zerbrochene Brille ein durchaus gefälliger Anblick war mit seinem scharf geschnittenen, feinen Profil.
    »In der Kirche von Chamula, der größten Siedlung der Tzotzil, die ungefähr zehn Kilometer von San Cristóbal de las Casas entfernt ist, stehen viele bunte Heiligenfiguren. Mein Vater suchte sich jedes Jahr eine davon aus. Er zündete Kerzen vor ihr an, wovon er sich ausreichend Regen und eine gute Ernte versprach. Trat dies nicht ein, dann schimpfte er diesen Heiligen später tüchtig aus, zerschlug den Spiegel vor dessen Figur, der als Sitz der Seele des Heiligen und als Eingang zur jenseitigen Welt gilt. Bei diesem Angriff gingen mitunter auch manche Teile der Figur selbst zu Bruch. Zur Strafe für deren Versagen suchte mein Vater sich natürlich einen anderen Schutzpatron, der fortan die Kerzen erhalten sollte. Es gibt übrigens keine Priester in dieser Kirche. Jene, die uns von den Ladinos geschickt werden, haben nicht wirklich etwas zu sagen. Bei uns herrschen die Ilols, Angehörige unseres Volkes, die die bösen Geister und die von ihnen ausgelösten Krankheiten vertreiben können.«
    Alice rutschte aufgeregt näher an ihn heran. Nun endlich gewährte er ihr Einblick in jene Welt, die sich vor allen verschloss, die keine reinblütigen Indianer waren. Es gab eine Frage, die sie unbedingt stellen musste.
    »Werden bei diesen … diesen alten Riten

Weitere Kostenlose Bücher