Der Duft des Regenwalds
nichts nützte. Sie bestand nur noch aus Zorn und dem Wunsch, am Leben zu bleiben. Da sah sie, wie zwei braune Hände, die aus weißen Hemdsärmeln herausragten, sich um Martins Kehle legten. Bald darauf tauchte ein Bündel aus männlichen Körpern auf. Martin rang mit einem schmächtigeren, aber wendigen Mann. Eng umschlungen, rollten sie über den Boden der Ruine, fast wie ein leidenschaftliches Liebespaar. Martin war eindeutig der Stärkere von beiden, doch die Wunde an seiner Schläfe beeinträchtigte seine Reaktionen, denn er schaffte es nicht, Andrés zu überwältigen. Seine Hand streckte sich begierig nach dem verlorenen Revolver aus, doch lag der außerhalb seiner Reichweite.
Plötzlich wurde Alice klar, wie sie dieses Schauspiel beenden konnte, anstatt als Zuschauerin auf seinen Ausgang zu warten. Sie griff nach dem Revolver. Er fühlte sich eiskalt an in ihrer Hand, und sie staunte, dass so eine kleine Waffe ausreichen konnte, einen Menschen zu töten. Ihr Vater war manchmal zur Jagd gegangen und hatte daher Schusswaffen besessen, aber Alice war niemals in das Geheimnis ihres Gebrauchs eingewiesen worden. Sie wusste, dass es eine Sicherung gab, doch Martin schien diese bereits gelöst zu haben, als er in den nächtlichen Dschungel schoss. Jetzt galt es nur, den Hebel nach hinten zu ziehen, damit sich ein Schuss löste. Leider musste sie auch treffen, was angesichts der Umstände nicht einfach war. Mal lag Martin oben, dann wieder Andrés. Martin stieß Flüche aus, während Andrés’ Gesicht sich vor Anspannung verkrampfte, da er der Kraft seines Gegners überlegte Geschicklichkeit entgegensetzen musste. Die Zeit, während die beiden auf dem Boden der Ruine rangen, schien unnatürlich verlangsamt. Alice hielt sich bewusst im Hintergrund, denn Martin sollte nicht bemerken, dass sie seinen Revolver in der Hand hielt. Erst als er Andrés unter sich gezwängt hatte und ihm Fausthiebe gegen die Schläfen versetzte, vergaß Alice alle Vorsicht.
»Aufhören, oder ich schieße!«
Martin erstarrte und sah in ihre Richtung. Seine Augen weiteten sich ungläubig, dann begann er zu lachen.
»Das ist kein Spielzeug, Mädchen. Du kannst doch gar nicht damit umgehen.«
Er sprang auf, um auf Alice zuzulaufen. Andrés wollte ihm nachsetzen, doch Alice’ heftiges Kopfschütteln bedeutete ihm, rasch aus der Schusslinie zu kriechen.
Sie bewegte den Hebel. Es knallte. Die Waffe zuckte in ihrer Hand. Martin kam unversehrt immer näher. Sie erinnerte sich, dass nur eine begrenzte Anzahl von Patronen in der Trommel sein konnte, und feuerte noch mal. Diesmal schrie Martin auf, sank in die Knie und presste eine Hand auf seinen blutenden Oberschenkel.
»Das wirst du bereuen, Chingada!«
Er bewegte sich weiter auf sie zu, wenn auch deutlich langsamer als am Anfang. Alice bewegte den Hebel noch mal, doch der erwartete Knall blieb aus. Sie hielt den Atem an, sah sich nach einem Fluchtweg um, aber Martin stand wieder zwischen ihr und dem Ausgang der Ruine. Er hatte seine Hand gegen sie gehoben, da sprang Andrés ihn erneut von hinten an. Diesmal war es nur ein kurzer Kampf. Martin schien begriffen zu haben, dass er in seinem Zustand unterlegen war, denn er schubste Andrés heftig von sich und rannte in das Dickicht des Dschungels. Zweige knackten, das Zischen und Krächzen schien lauter zu werden. Dann war es für einen Augenblick traumhaft still.
Alice hielt den Revolver weiter umklammert, obwohl sie wusste, dass er nutzlos war. Ohne die Waffe fürchtete sie so hilflos zu werden wie vorher. Andrés kam langsam näher, er humpelte, und sein linkes Auge war zugeschwollen. Mit einer ruhigen, aber bestimmten Bewegung nahm er ihr den Revolver aus der Hand.
»Er ist weg. Und heute Nacht kommt er nicht wieder. Ohne seine Waffe fühlt er sich nicht stark genug.«
Sie atmete tief durch und begann zu ihrem Entsetzen zu weinen.
»Modesta … er … er schnitt ihr einfach die Kehle durch, als würde er ein Huhn schlachten. Er verzog dabei keine Miene.«
Schluchzend sank sie auf die Knie. Sie wollte weg von diesem mörderischen Dschungel, dessen gefährlichste Kreaturen auf zwei Beinen herumliefen. Andrés näherte sich ihr zögernd, und erst als sie sich freiwillig in seine tröstende Wärme drängte, schloss er sie in die Arme.
»Für ihn ist eine gewöhnliche Indio-Frau nicht viel mehr wert als ein Huhn. Er arbeitete lange als Aufseher in der Montería. Dort behandelt man uns schlimmer als Tiere. Aber ich denke, auch für die
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