Der Duft des Regenwalds
sein Lager aufschlug, hoffentlich, ohne ihn dabei zu durchlöchern.«
Er lachte auf, und Alice verspürte einen Stich in ihrer Brust. Sie war Andrés dankbar, dass er nicht in dieses Lachen einstimmte.
»Außerdem gibt es da diese freie Fläche, die nur von ein paar Mauerresten umgeben ist, fast wie ein Übungsplatz«, fuhr der Archäologe fort. »Für Soldaten vielleicht. Wenn wir uns dort genauer umsehen, entdecken wir hoffentlich ein paar Fundstücke, die uns mehr über den Zweck dieses Ortes verraten. Dann bleiben noch ein paar Tempel auf der anderen Seite des Baches. Wir haben auf jeden Fall noch genug zu tun, bevor im Frühjahr die nächste Regenzeit einsetzt und wir hier im Schlamm zu versinken drohen.«
Alice nippte an ihrem Wein. Sie nahm zur Kenntnis, dass Dr. Scarsdale sie und Andrés in seine weiteren Planungen miteinbezog, und das versöhnte sie ein wenig mit ihm. Ihre Reisepläne rückten mit jedem Tag in immer weitere Ferne. Zwar wusste sie, dass ihr noch ein paar Monate Zeit blieben, um die Bilder für die nächste Ausstellung abzuliefern, doch wenn sie weiter ihre Tage damit verbrachte, Schriftzeichen zu kopieren, würde sie nicht genügend vorweisen können. Sie beschloss, das Problem anzugehen, sobald sie wieder in einer größeren Stadt, vorzugsweise in Veracruz wäre, wo sich ein Telegrafenamt befand. Dann musste sie dem Galeristen eine kurze Erklärung mit Bitte um Aufschub schicken. Den nächsten Termin würde sie aber einhalten, selbst wenn es bedeuten sollte, ein paar Wochen lang auf Schlaf zu verzichten.
Bei diesem Gedanken begannen ihre Augenlider schwer zu werden, und sie sehnte sich nach ihrer Hütte, die sie nur noch mit Mariana teilte. Andrés hatte sein Lager bei den anderen Indios aufgeschlagen, doch er hatte ihr versprochen, stets in Rufweite zu bleiben, falls Martin zurückkehrte. Aber im Augenblick hatte sie andere Sorgen.
»Ich glaube, ich ziehe mich jetzt zurück. Ich bin todmüde«, teilte sie den beiden Männern mit. Andrés erhob sich wie gewohnt, um sie zu ihrer Hütte zu begleiten. Dr. Scardsdale fand nichts Ungewöhnliches daran, denn er verabschiedete sie mit einem geistesabwesenden Murmeln. Alice überlegte, dass sie sich mit Andrés unmittelbar unter der Nase des Gelehrten im Gras hätte wälzen können, und er würde sie nur eines erstaunten Blickes würdigen, um dann wieder an seine Arbeit zu gehen. Kurz wandte sie sich um und sah, dass im Zelt des Archäologen die Öllampe brannte. Andrés legte langsam einen Arm um ihre Schultern. Die Erinnerung an seine Berührung ihrer Schenkel löste ein Pochen zwischen ihren Beinen aus, und sie überlegte, dass er wenigstens für eine Weile mit in ihre Hütte kommen konnte. Die Arbeiter und auch die Aufseher schliefen bereits, Dr. Scarsdale bekäme mit Sicherheit nichts mit, und Julio war noch nicht zurück. Doch bevor sie ihre Einladung ausgesprochen hatte, spürte sie Andrés zusammenzucken.
»Was ist denn?«, fragte sie und nahm seine ungeduldige Geste zur Kenntnis, mit der er sie zum Schweigen aufforderte. Ein paar Atemzüge lang standen sie völlig still da, hörten das Flüstern des Dschungels, der sie hier umgab, sein Fauchen, Zischen und Krächzen. Es klang in Alices Ohren vertraut.
»Was hast du denn gehört?«, fragte sie Andrés flüsternd.
»Schritte. Da war jemand.«
Sie schüttelte verwirrt den Kopf.
»Aber ich habe nichts Ungewöhnliches gehört. Vielleicht streift ein Tier hier herum, angelockt vom Essensgeruch.«
»Es klang nach den Schritten eines großen, kräftigen Menschen«, beharrte Andrés. Sie wollte schon nachbohren, weshalb er sich dessen so sicher war, als ihr klar wurde, dass diese Frage wirklich dumm gewesen wäre. Im Gegensatz zu ihr war er mit den Geräuschen der Natur aufgewachsen und hatte gelernt, sie zu deuten. Er setzte sich wieder in Bewegung, und sie folgte ihm schweigend.
»Alice«, sagte er ernst, als sie vor ihrer Hütte standen, »verrammele heute Nacht deine Tür. Ich werde mich gleich daneben schlafen legen. Dein Hund taugt zwar kaum als Kämpfer, aber bellen wird er hoffentlich, wenn jemand versucht einzudringen.«
Ein Schauer kroch über ihren Rücken.
»Du meinst, Martin ist immer noch hier?«
Sein Schweigen war Antwort genug.
»Aber warum? Was will er denn von uns?«
»Ich glaube, er beobachtet uns«, erwiderte Andrés. »Mir schien, als hätte ich ihn in der Nähe von Dr. Scarsdales Zelt gehört, doch die Schritte entfernten sich. Vielleicht hat er die ganze Zeit
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