Der Duft des Regenwalds
Angst nicht. Männer waren letztendlich stärker, weil sie kräftiger zuschlagen konnten und die offizielle Macht in ihren Händen lag. Hier im Dschungel war sie abhängig von dem Schutz des Archäologen und konnte sich nicht erlauben, ihn zu verärgern. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er auch ihre Drohungen höhnisch beiseitefegte.
Plötzlich hörte sie Dr. Scarsdale kichern. Er war ein unangenehmer Laut, so wie das Knirschen von Zähnen oder das Kratzen von Nägeln über eine raue Fläche.
»Meine verehrte Miss Wegener, Sie sind Ihrem Bruder ähnlicher, als Sie vermuten. Derselbe edle Gerechtigkeitssinn. Aber …«
Er verstummte kurz und rieb sich die Hände.
»Ich bin kein Unmensch. Vergeben Sie mir, aber von dem Trotz Ihres indianischen … Gefährten fühlte ich mich ein wenig provoziert. Ich schätze Höflichkeit im zwischenmenschlichen Umgang.«
»Die schätze ich auch«, erwiderte Alice so damenhaft, wie sie es einst gelernt hatte. »Aber sie scheint mir mit Grausamkeit und Ausbeutung nicht vereinbar.«
Dann biss sie sich reumütig auf die Lippen. Warum hatte sie den Archäologen noch mal provoziert, anstatt eine Einigung zu suchen?
»Meine Güte, lassen wir doch diese sinnlosen Zwistigkeiten. Wir haben hier Wichtigeres zu tun«, sagte Dr. Scarsdale. »Neun Stunden am Tag. Unter der Führung des Señor Uk’um arbeiten die Männer sehr gut, daher müsste es genügen. Hauptsache, wir kommen voran.«
Alice atmete erleichtert auf.
»Und was mache ich in der Zwischenzeit?«, fragte sie, denn Steine konnte sie nicht anheben.
»Sie kopieren erst einmal die Reliefs im Palast«, beschloss der Archäologe. »Und sobald wir den Stein entfernt haben, finden wir vielleicht noch so einiges mehr, das aufgezeichnet werden muss.«
Alice akzeptierte die Anweisung. Es gefiel ihr, Teil einer Gruppe zu sein, die ein gemeinsames Ziel verfolgte.
Die Arbeiten begannen bereits am nächsten Tag und wurden ohne Murren verrichtet. Alice staunte, wie schnell auch die Aufseher sich damit abfanden, von einem Indio Weisungen entgegenzunehmen, doch einige von ihnen sahen so aus, als stammten sie selbst von den Ureinwohnern ab. Trotzdem, Patrick hatte es in seinem Tagebuch anders beschrieben. Sie hatte allerdings kaum Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn der Feuereifer, mit dem alle hier ans Werk gingen, sprang schnell auf sie über.
Sobald die ersten kleineren Steine an den Seiten entfernt worden waren, zeigte sich, dass die Wände der Außenmauern tiefer in den Boden hineinreichten, als für die Errichtung des Tempels nötig gewesen wäre. Dies bestätigte Andrés’ Vermutung von einer unter den Steinfliesen verborgenen Kammer, doch zunächst stießen sie zu Dr. Scarsdales Enttäuschung nur auf Geröll. Wie tief diese Schicht sein konnte, vermochte niemand einzuschätzen, und es wurde immer wahrscheinlicher, dass die Forschungsarbeiten sich noch etliche Monate, vielleicht sogar Jahre hinziehen könnten. Während Alice in Marianas Begleitung im Palast Skizzen anfertigte, überlegte sie, wie lange sie noch hier im Dschungel bleiben würde. Es gab so vieles, das sie in ihrer Heimat erledigen musste, aber mit jedem Tag, da sie die feuchte Luft des Regenwalds einatmete, sein Rauschen um sich hörte und in der geheimnisvollen Welt uralter Ruinen versank, schienen die Bande, die sie zurück in ihr altes Leben zogen, schwächer zu werden. Sie hatte sich an die schlichte Hütte gewöhnt, zumal sie von Moskitos zunehmend verschont wurde. Auf Andrés’ Rat hin schlief sie in einer Hängematte, um vor Skorpionen sicher zu sein, nahm am Morgen gemeinsam mit den Arbeitern ihren Kaffee und ein paar Tortillas mit Bohnen zu sich und brach dann wie alle anderen zur Arbeit auf. Diese Regelmäßigkeit schenkte ihrem Leben eine Ruhe, die sie in Mexiko bisher nicht empfunden hatte. Der Höhepunkt des Tages war das Abendessen zu dritt in Dr. Scarsdales Zelt, wo bei einem Glas Rotwein über das mögliche Geheimnis des Tempels der Inschriften debattiert wurde. Anschließend begleitete Andrés sie regelmäßig zu ihrer Hütte, was ihnen ein paar Augenblicke ungestörten Beisammenseins schenkte. Alice hatte gelernt, sich darauf zu freuen, anstatt ungeduldig nach mehr zu verlangen. Auf einmal schien es ihr durchaus reizvoll, zu warten und sich gegenseitig kennenzulernen. Eine junge Pflanze vermochte vielleicht besser zu wachsen, wenn man nicht gleich gierig an ihr zerrte und riss.
Ungefähr eine Woche nachdem die Arbeiter mit der Grabung
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