Der Duft des Regenwalds
säbeln. Eine Ewigkeit verging, bis es endlich riss. Ein Stück neben sich hörte sie Andrés’ Körper auf dem Boden aufschlagen. Sie zuckte entsetzt zusammen, wusste aber, dass sie nicht anders hatte vorgehen können.
Er lag auf dem Rücken und rührte sich nicht, als sie sich über ihn beugte. Mit zitternden Fingern strich sie ihm die schweißverklebten Strähnen aus der Stirn.
»Wach auf, bitte!«, flehte sie leise. Als seine Wimpern zuckten, schossen ihr Tränen der Erleichterung in die Augen. Sie schmiegte sich an seinen geschundenen Körper und legte den Kopf auf seine Brust. Das regelmäßige Pochen seines Herzens schien der schönste Klang zu sein, den sie jemals vernommen hatte. Leicht wie ein Windhauch fuhr seine Hand ein Stück über ihren Arm.
»’A’al«, flüsterte er heiser. Alice versuchte, seinen trüben Blick zu erhaschen. Für den Bruchteil eines Moments leuchteten seine Augen, dann fielen die Lider zu, als hätte es ihn zu sehr angestrengt, ein einziges Wort zu sprechen. Ratlos blieb Alice an seiner Seite sitzen. Sie wusste nicht, wie lange er an dem Baum gehangen hatte, und es war ihr ein Rätsel, wie sie ihm helfen konnte, außer weiter in seiner Nähe zu bleiben.
»Ich verstehe kein Tzotzil«, sagte sie schließlich. »Bitte sprich so, dass ich dich verstehen kann.«
Eine Weile rührte er sich nicht, begann aber ruhiger zu atmen. Seine Augen blieben geschlossen, und sie erwog, ihn eine Weile schlafen zu lassen. Doch sie konnte nicht einschätzen, wie gefährlich es war, im Dschungel zu liegen. So wagte sie schließlich, ihn sanft anzustupsen, und erschrak, als er aufstöhnte. Sein Blick traf mit völliger Klarheit den ihren.
»Agua«, krächzte er, »Agua, por favor.«
Der Umstand, dass er selbst in dieser Lage noch höflich bat, ließ sie erneut in Tränen ausbrechen. Sie wischte beschämt ihre Wangen trocken und schalt sich innerlich, weil sie nicht von selbst auf die Idee gekommen war, dass er am Verdursten sein musste.
»Ich werde Wasser holen«, versprach sie, erinnerte sich erleichtert an den rostigen, verbeulten Becher am Ufer und wollte aufstehen, doch ein zartes Ziehen an dem Ärmel ihrer Bluse hielt sie zurück.
»Nicht weggehen!«, flüsterte er auf Englisch. Sie blieb an seiner Seite hocken und weinte eine Weile vor sich hin, bis er seine Bitte leise, aber beharrlich wiederholte und dabei etwas hartnäckiger an ihrer Bluse zupfte.
»Dann musst du aufstehen«, erwiderte sie, denn allmählich vermochte sie klarer zu denken. »Der Fluss ist nicht weit weg, aber ich kann dich nicht tragen.«
Er schloss die Augen und machte ein paar Atemzüge, sodass sie befürchtete, er wäre nicht mehr ansprechbar. Dann aber gelang es ihm, sich mit einem lauten Stöhnen aufzurichten. Wieder einmal staunte sie über seine Zähigkeit. Sein Arm lag schwer auf ihren Schultern, während sie gemeinsam durch das Dickicht stolperten. Immer wieder sackte Alice zusammen und brachte auch ihn dadurch zu Fall, aber er drängte sie, nicht aufzugeben. Es dämmerte bereits, als sie das Ufer erreichten. Andrés bat sie, ihn einfach ins Wasser sinken zu lassen, und als sie in der Nähe keine verdächtig aussehenden Tiere erblicken konnte, erfüllte sie seinen Wunsch. Lange saß er mit geschlossenen Augen im kühlenden Nass, das Schmutz, Schweiß und Blut von seinem Körper spülte. Erst als die Nacht hereinbrach, schaffte er ohne Hilfe den Weg zurück ans Ufer. Mit beiden Armen umschlang er Alice, und sie schliefen dicht aneinandergepresst neben dem Usumacinta ein.
Als sie von den ersten Sonnenstrahlen geweckt wurde, war Andrés bereits im Begriff, das Boot wieder zum Wasser zu schieben. Sie sah, dass er ein Lagerfeuer entfacht hatte. Ein paar große Eier lagen auf den verkohlten Agavenblättern, die anstelle von Brennholz benutzt wurden. Alice überlegte, dass er vermutlich die Nester der Flamingos geplündert hatte, was angesichts der Größe dieser Vögel sicher nicht ungefährlich gewesen war. Die Tortillas hatte er aus dem Beutel geholt, doch nur eine davon gegessen. Die restlichen vier lagen für Alice bereit, ebenso wie der zerbeulte Becher, mit Wasser gefüllt, ein Stück neben ihr stand.
Sie richtete sich auf und rieb ihre verschlafenen Augen. In ihren Händen steckten noch ein paar Dornen von der Palme, zudem waren sie zerstochen, da sie gestern Abend vergessen hatte, sich mit Kampfer einzureiben. Trotzdem war ihr weitaus wohler als am vergangenen Tag, als sie im Morgengrauen allein im
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