Der Duft des Regenwalds
und erschrak, wie bitter es klang.
»Ich fürchte, ich war ihnen zu frech. Ich versuchte, wie ein denkender Mensch zu reden, wies darauf hin, dass Manuel nur ein paar halb leere Flaschen ausgetrunken haben konnte, was er nicht zu bestätigen wagte. Sie gingen nicht einmal darauf ein, aber etwas an mir missfiel ihnen. Zunächst zogen sie mich ebenso hinter ihren Pferden her wie Manuel, doch als ich bei dem nächsten Halt darauf hinwies, dass sie kein Recht hätten, mich mitzunehmen, da ich bei ihnen keine Schulden habe, hatten sie endgültig genug von meinem Mundwerk. Sie beschlossen, mich an einem Baum hängen zu lassen, anstatt mich in die Montería zu schleppen. Indios wie ich müssen ihnen Angst machen.«
Alice holte mühsam Luft.
»Sie wollten dich dort einfach sterben lassen?«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht sollte es nur eine Lektion sein, und sie hätten mich später wieder geholt. Oder sie beschlossen, dass ein derart unverschämter Indio wie ich für ihre Zwecke nicht taugte, und wollten mich den Wildschweinen überlassen, damit mein Dasein auf dieser Welt nicht völlig nutzlos wäre.«
»Warum Wildschweine?«
Alice hatte die Frage leise geflüstert. Der schneidende Spott in seiner Stimme machte ihr Angst. Das Grauen, von dem er sprach, hatte ihren freundlichen, klugen, schüchternen Liebhaber in einen fremden Menschen verwandelt.
»In der Montería ist es eine weitverbreitete Strafe, langsame oder renitente Arbeiter über Nacht an einem Baum aufzuhängen«, erwiderte er emotionslos. »Dass manche dabei sterben, nimmt man in Kauf. Sie werden von Krokodilen oder Wildschweinen gefressen, je nachdem, ob sie am Wasser hängen oder im Wald. Manche verdursten auch vorher. Wer vermisst schon einen gewöhnlichen Indio?«
»Ich hätte es getan«, erwiderte Alice, senkte dann schweigend den Kopf, denn ihr fehlten die angemessenen Worte für die Zustände, die er geschildert hatte. Es tat ihr weh, dass er auf ihre Bemerkung nicht reagierte. Verurteilte er sie nun wegen ihrer Herkunft, weil sie im Haus der Bohremanns willkommen gewesen war und in San Cristóbal de las Casas auf den schmalen, hohen Bürgersteigen gehen durfte?
Nach einer Weile legte er seine Hand endlich auf die ihre.
»Danke, dass du mich gerettet hast. Dabei traute ich dir nicht einmal zu, allein in das Boot zu steigen. Die ganze Zeit machte ich mir Vorwürfe, dich zurückgelassen zu haben.«
Sie presste seine Hand an ihre Wange.
»Wie du siehst, bin ich nicht ganz so hilflos.«
Ein Lächeln erhellte sein Gesicht. Erleichtert rückte Alice näher an ihn heran und staunte, wie viel Glück sie empfand, als er seinen Arm für einen kurzen Moment um ihre Taille legte, bevor das Rudern wieder seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Hier in der Wildnis geschah etwas, das sie früher niemals zugelassen hätte. Ein Mann begann zum Mittelpunkt ihres Daseins zu werden. Die Vorstellung gefiel ihr nicht, doch sie fühlte sich im Augenblick zu wohl, um etwas daran ändern zu wollen.
Sie glitten weiter über das Gewässer dahin, bis die Sonne hinter den Bäumen zu versinken begann. Dann lenkte Andrés das Boot zum Ufer. Diesmal gab es keinen Anlegeplatz, sie traten unmittelbar in den Dschungel, und Andrés zog das Boot aus dem Wasser. Im Dickicht der Bäume verzehrten sie ein paar Tortillas und tranken abwechselnd aus dem zerbeulten Becher. Andrés schlich immer wieder zum Wasser zurück, um ihn erneut zu füllen.
»Morgen werde ich mich umsehen, damit ich eine Steinschleuder basteln kann«, versprach er. »Mit etwas Glück kann ich eine warme Mahlzeit für uns erlegen.«
Alice wusste, dass er sich auf den rasch schrumpfenden Vorrat an Tortillas bezog. Zwar konnte sie sich kaum vorstellen, wie es möglich sein sollte, in diesem von Gewächsen überwucherten Dschungel ein Tier mit einem Stein zu treffen, doch die Bewohner dieser Wildnis mussten sich von irgendetwas ernähren. Mit einem leisen Seufzer schmiegte sie sich an Andrés. Ohne ihn wäre sie hier völlig verloren, aber sie hatte ihm auch das Leben gerettet. Als ihr Kopf an seiner Schulter ruhte und sie zwischen den gewaltigen Bäumen das glühende Rot des Sonnenuntergangs sah, konnte sie endlich die überwältigende Pracht dieses Ortes auf sich wirken lassen, ohne von dem Wissen geplagt zu werden, dass jeder falsche Schritt sie umbringen würde.
Eine Weile lauschten sie gemeinsam dem Rauschen des Wassers und den Geräuschen des Regenwaldes. Andrés begann fast andächtig, über ihren
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