Der Duft des Regenwalds
Rücken zu streichen. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. Er empfand keine Scheu mehr, sie zu küssen. Während der ersten Nächte, die sie im Freien verbracht hatten, hatte er stets auf die Gefahren hingewiesen und Abstand von ihr gewahrt, doch die Zeit, als er hilflos an einem Baum hängend den Tod erwartet hatte, schien seine Einstellung verändert zu haben. Seine Bewegungen waren forscher und drängender, als wolle er jede Minute, die ihnen gemeinsam vergönnt war, nutzen. Alice ließ zu, dass er ihr die Kleider auszog und danach auch seine eigenen, küsste die wunden Stellen auf seiner Haut und genoss das Gefühl, ihn die erlebten Qualen für eine Weile vergessen zu lassen. Ohne an Moskitos und bissige Ameisen zu denken, blieb sie neben ihm liegen, bis er eingeschlafen war. Dann nahm sie die herumliegenden Kleidungsstücke, um sie beide zuzudecken.
Sie staunte, wie glücklich sie hier in dieser Wildnis war, obwohl sie nicht einmal wusste, was sie am nächsten Tag essen würden.
Schreie drangen an ihr Ohr, und sie fuhr auf. Durch das Dach aus Ästen fiel spärliches Licht. Die Sonne war bereits aufgegangen. Das Rauschen des Usumacinta klang anders, lauter und unruhiger. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, denn sie meinte, Männer rufen zu hören.
»Andrés!«, flüsterte sie und rüttelte ihn wach. »Da ist jemand auf dem Fluss.«
Er sprang sofort auf die Beine, schlüpfte in die zerschlissene weiße Hose und schlich fast geräuschlos zum Flussufer. Nach einer Weile folgte Alice ihm so leise wie möglich, doch das Knacken der Zweige hallte unter jedem ihrer Schritte. Sie entdeckte Andrés hinter einem der Bäume, wo er regungslos dasaß und aufs Wasser starrte. Bevor sie ein Wort sagen konnte, hatte er sich schon umgedreht.
»Was ist …«
Er brachte sie durch ein Zeichen zum Schweigen, winkte sie aber an seine Seite. Unmittelbar neben ihm ließ sie sich nieder, um auf das Wasser hinauszusehen.
Der Fluss schien fast völlig mit riesigen Baumstämmen bedeckt, die aneinandergebunden waren. Vielleicht wäre es sogar möglich gewesen, über dieses Floß bis ans andere Ufer zu laufen, doch ihm folgten Boote mit Männern. Die Worte, die sie sich zuriefen, hallten über das Wasser.
»Capataces«, flüsterte Andrés. »Sie transportieren das in der Montería gefällte Holz.«
Alice sah die breiten Baumstämme langsam den Fluss hinabgleiten, bis sie allmählich aus ihrem Sichtfeld entschwanden. Noch vor Kurzem waren sie die wuchtigen Säulen des Dschungelreichs gewesen, nun würden sie zu Möbelstücken verarbeitet werden. Sie hatte prächtig geschnitzte Tische und Stühle aus Mahagoni in ihrem Elternhaus gesehen, aber niemals darüber nachgedacht, woraus sie entstanden waren. Auf einmal empfand sie Wehmut, als seien stolze Krieger getötet worden.
»Wir hätten diesen Kerlen unterwegs leicht begegnen können«, sagte sie. Sie wusste nicht, ob irgendeine Gefahr von den Männern ausgegangen war, doch nach ihrer Begegnung mit Martin und dem, was Andrés widerfahren war, legte sie keinen Wert auf ein Wiedersehen mit den Aufsehern der Monterías.
»Es ist vielleicht zu gefährlich, weiter auf dem Fluss zu fahren«, stellte Andrés fest.
»Aber was sollen wir machen? Zu Fuß laufen?«
Sie schämte sich fast, so kläglich klang ihre Frage. Er drehte sich zu ihr um.
»Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, fürchte ich. Ich werde langsam laufen und Pausen machen, wenn du nicht mehr kannst. Wir haben so auch bessere Aussichten, Ix Chels Leuten zu begegnen.«
Angesichts des Dickichts, das sie umgab, war Alice davon nicht überzeugt.
»Die Capataces, die dich fortschleppten, waren zu Pferd unterwegs. Wir könnten ihnen ebenso über den Weg laufen«, warf sie ein.
»Pferde kann ich aus der Ferne hören. Wir werden uns in dem Fall einfach verstecken. Hier im Dschungel gibt es genug Möglichkeiten.«
Sie konnte dem nichts mehr entgegenhalten, nur, dass es ihr vor einer solchen Reise graute, zudem sie kein klares Ziel hatten.
»Vertraue mir«, bat Andrés, »ich bringe dich zu Ix Chel.«
Sie atmete tief durch und begann sich dann innerlich auf den Fußmarsch vorzubereiten.
Andrés gelang es tatsächlich, ein Kaninchen zu erlegen, das von ihm gehäutet und anschließend über einem Lagerfeuer gebraten wurde. Das Fleisch erwies sich als erstaunlich wohlschmeckend, und Alice begann sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass sie die nächste Zeit so leben würde. Sie wusste nicht, wann sie den Dschungel wieder
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