Der Duft des Regenwalds
müssen, denn die wenigen Frauen in diesem Lokal waren ebenso dunkelhäutig wie die Männer. Juan Ramirez blickte sich um, und ein Lächeln erhellte sein Gesicht, während er das sorgfältig gebundene Plastron an seinem Hals glatt strich und ein wenig zu wachsen schien. Eitler Gockel, dachte Alice für einen Moment, denn sie fühlte sich wie ein Schmuckstück an seiner seidig glänzenden Weste, das ihn glücklich machte, da es Aufsehen erregte. Dann begannen ein paar Musiker mit Gitarren, Geigen und Trompeten eine gefällige Melodie zu spielen. Alice’ Füße wippten im Takt, und ihre Laune wurde wieder besser. »Siempre me dejaron las mujeres«, klagte ein kleiner Sänger mit vorquellendem Bauch und kunstvoll geschwungenem Schnurrbart. Alice überlegte, ob dieser mangelnde Erfolg beim schönen Geschlecht vielleicht auf seine etwas lächerliche Aufmachung zurückzuführen war, denn er trug einen Hut, der halb so groß schien wie sein ganzer Körper, und war von Kopf bis Fuß mit Goldbordüren und silbernen Beschlägen verziert, wodurch er sie entfernt an Christbaumschmuck erinnerte. Juan Ramirez teilte ihr indessen mit, es handle sich hier um Mariachi, traditionell mexikanische Musiker, die den Chorro trugen, einen hierzulande sehr beliebten Männeranzug für festliche Angelegenheiten. Eine kleine mollige Frau stellte eine Flasche von jenem scharf schmeckenden Schnaps, den Günter Grünwald Alice bereits während der Reise angeboten hatte, auf den Tisch. Juan Ramirez füllte sogleich zwei kleine Gläser.
»Das nennt sich Tequila«, meinte er und stieß mit Alice an. Sie kippte das Getränk ebenso schnell wie er hinunter. Vielleicht war es die Erschöpfung nach der langen Reise oder die Verwirrung durch all das Fremde, aber das kleine Gläschen reichte für einen wohltuenden Rausch. Auf einmal gefiel es ihr, dass Juan Ramirez stolz war, mit ihr am Tisch zu sitzen. Die schlichten Melodien der Musiker wurden zu einer kunstvollen Darbietung, die ihren ganzen Körper mit eingängigen Rhythmen erfüllte. Sie erhielt einen Teller mit einer Mischung aus Bohnen, Fleisch und Kartoffeln, die zwar einem gewöhnlichen Eintopf glich, sich auf ihrer Zunge aber in einen Feuerbrand verwandelte. Tränen schossen ihr in die Augen, während sie verzweifelt nach ihrem Wasserglas griff. Juan Ramirez schüttelte den Kopf und schenkte ihr noch mal Schnaps ein.
»Wasser hilft nicht«, erklärte er. Alice leerte also ein zweites Glas Tequila, wodurch die zuckenden Flammen in ihrem Mund tatsächlich zu einem leichten Schwelen wurden. Vielleicht waren auch einfach ihre Sinne betäubt.
»Ich habe gehört, dass Sie Malerin sind?«, begann ihr Begleiter eine Unterhaltung, sobald sie sich ein wenig gefangen hatte. Sie nickte höflich. Konversation zu machen erschien ihr im Augenblick etwas anstrengend, aber wohl zwingend notwendig.
»Welchen Stil bevorzugen Sie?«, fragte Juan Ramirez. »Ich selbst liebe die Impressionisten. Als ich vor fünf Jahren einmal Paris besuchen durfte, ging ich oft in Ausstellungen. Ich war hingerissen von Monet und Degas. Die hellen Farben, das Licht. Ältere Bilder wirken auf mich oft sehr steif und vor allem düster.«
Alice hatte nicht damit gerechnet, dass dieser schöne Geck sich für Kunst begeistern konnte, seine Zeit in Galerien verbrachte und dabei sogar Vorlieben entwickelte. Mit ungewohnter Spontanität sprach sie über ihre eigene Einschätzung, erklärte, wie die Einflüsse asiatischer Kunst europäische Maler leichter und farbenfroher arbeiten ließen, von ihrer Liebe zu gewöhnlichen Alltagsmomenten, die ihr auf der Leinwand viel reizvoller schienen als heroische Ereignisse der Geschichte oder stolze Gesichter wichtiger Personen. Sie musste sehr laut reden, um die Musik und die Unterhaltungen der Männer an den anderen Tischen zu übertönen, doch obwohl die Stimme ihr ab und an versagte, glitt sie völlig unverkrampft in ein Gespräch, das ihre Aufmerksamkeit fesselte.
Eine Weile später spazierte sie mit Juan Ramirez in der Stadt herum und versuchte, ein Gedicht Stefan Georges über den Hochsommer aus dem Gedächtnis ins Französische zu übersetzen, um so deutlich zu machen, was sie mit der Wichtigkeit kleiner Details meinte. Bedauerlicherweise geriet sie an die Grenzen ihrer Kenntnis der fremden Sprache, obwohl Juan Ramirez versicherte, ihm sei durchaus klar, was sie meinte. Dann lenkte er ihre Aufmerksamkeit auf die Details der Stadt.
»Das ist der Zócalo, die bekannteste Plaza der
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