Der Duft des Regenwalds
nickte sie nur und folgte dem Mann, der hier auf sie gewartet hatte. Als sie sich von der Hafengegend entfernt hatten, ließ das Gedränge und Geschrei ein wenig nach, sodass Alice sich in Ruhe umsehen konnte. In der Stadt pulsierte jenes Leben, das unablässig von den Schiffen an Land geschwemmt wurde: kaffeebraune, tief schwarze und vertraut kalkblasse Gesichter, umgeben von leuchtenden Farben und fremden Gerüchen. Die größeren Gebäude der Stadt wirkten durchaus europäisch, breit, steinern und unerschütterlich. Kutschen mit eleganten Herrschaften zogen vorbei, ebenso wie Trambahnen. Von den kleinen braunen Indios, die sie auf Patricks Zeichnungen gesehen hatte, begegneten ihr keineswegs so viele wie erwartet. Die Ureinwohner dieses Landes verschwanden fast in der Masse späterer Einwanderer, die Veracruz seinen südländisch beschwingten Charakter gegeben hatten. Händler boten am Straßenrand gebackene Maisfladen, Tortillas genannt, an, ebenso wie Tamales, ein Gemisch aus Maisbrei, Hackfleisch und Chili, das in Bananenblätter gewickelt war. Juan Ramirez erwarb unterwegs einige davon und überredete Alice, sie zu probieren. Nach dem ersten Bissen meinte sie, ihre Zunge würde verbrennen, doch allmählich breitete sich ein angenehmer würziger Geschmack in ihrem Mund aus. Dennoch beschloss sie, den Rest dieser exotischen Speise zunächst ihrem Begleiter zu überlassen, der sie weiter durch ein Geflecht von Straßen führte, die vor Menschen fast überquollen. Alice entdeckte weitere Stände mit Schmuck aus Muscheln und Korallen, mit Strohhüten und Kleidung, deren leuchtende Farben sie fesselten. Sie wollte den energisch vorausschreitenden Juan Ramirez nicht aufhalten, zumal sie noch die kräftigen Kofferträger im Schlepptau hatte, war aber fest entschlossen, ein paar dieser Dinge zu erwerben, bevor sie wieder in ihre Heimat aufbrach. Mexiko begann seine Reize zu entfalten, auch wenn Alice sich in der schwülen Hitze immer noch wie benommen fühlte.
Das Hotel erwies sich als imposantes, cremefarben getünchtes Gebäude mit zahlreichen Balkonen. Alice’ erster Gedanke war, dass sie sich die Unterkunft hier niemals leisten könnte, doch sie wusste nicht, wie billigere Hotels in Veracruz aussahen. Es war wohl vernünftiger, sich zunächst auf Juan Ramirez zu verlassen.
»Das ›Hotel del Jardin‹ ist eine gute Adresse«, teilte er ihr mit. »Sauber und komfortabel eingerichtet. Es wird Ihnen gefallen.«
Als Alice durch ein schmiedeeisernes Gitter in den Vorhof trat, gefiel die Umgebung ihr nicht nur, sondern sie bezauberte sie vom ersten Moment an. Der Garten war ein Kunstwerk aus Blumenbeeten, Sträuchern und Palmen. Farben strahlten mit solcher Intensität, dass alle Naturschönheit, die Alice jemals gesehen hatte, in ihrer Erinnerung zu verblassen begann. Sie sog gierig süße Düfte in ihre Lunge und sehnte sich nach ihrer Palette, um die Ölfarben so lange zu mischen, bis sie die richtigen Nuancen gewann. Allmählich begann sie zu ahnen, warum Günter Grünwald dieses Land als Paradies für Künstler bezeichnet hatte.
»Wir lassen jetzt Ihr Gepäck hineinbringen.« Juan Ramirez riss sie aus ihren Gedanken. »Dann wollen Sie sicher Ihr Zimmer sehen. Es wird mindestens eine Woche dauern, bis Ihr Bruder mit Dr. Scarsdale hier eintrifft. Sie haben noch genug Zeit, nach Herzenslust durch den Garten zu flanieren.«
Alice folgte ihm gehorsam ins Innere des Hotels. Tatsächlich war es weitaus edler als alle Herbergen, die sie in den letzten Jahren besucht hatte. Das verzierte Geländer an der elegant geschwungenen Treppe erinnerte sie ein wenig an ihr Elternhaus, doch hier sorgten farbenfrohe Tapeten und mit üppigen Blüten gefüllte Vasen für weniger kahle Strenge. Die Indios übergaben den Koffer und die Staffelei den Hausdienern und verschwanden, nachdem Juan Ramirez ihnen ein paar Münzen in die Hand gedrückt hatte. Nach einem kurzen Gespräch mit einem uniformierten Herrn an der Rezeption wurde Alice ins zweite Stockwerk geführt. Juan Ramirez begleitete sie zu einer Tür am Ende des Ganges, dann verbeugte er sich.
»Ihr Zimmer, Señorita Wegener. Ich wohne gegenüber. Falls Sie etwas brauchen, können Sie jederzeit bei mir anklopfen. Vermutlich wollen Sie sich eine Weile ausruhen. Ich würde mir gern erlauben, Sie in drei Stunden zu einem gemeinsamen Abendessen abzuholen. Bei der Gelegenheit kann ich Ihnen auch mehr von der Stadt zeigen.«
Alice fühlte sich von so viel Höflichkeit zu
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