Der Duft des Regenwalds
nachdem der Himmel über ihnen sich in ein schwarzes, sternbesticktes Tuch verwandelt hatte, brachen sie wieder zum Hotel auf. Es sei nur ein kurzer Weg durch ein paar enge Gassen, wie Juan Ramirez versicherte. Alice, der in dieser Stadt jegliche Orientierung fehlte, überließ sich wieder seiner Führung. Er schlug gerade Unternehmungen für den nächsten Tag vor, als neben ihnen plötzlich bunte Frauenröcke an einer Hauswand aufleuchteten. Alice erkannte eine sorgfältig verschlungene Frisur mit zwei Rosen ein Stück oberhalb der Schläfen, die sie vor Kurzem an einer der Tänzerinnen bestaunt hatte, da sie auf kuriose, reizvolle Weise an Hörner erinnerten. Nun schien diese Haarpracht zerzaust, als habe eine unruhige Hand in ihr gewühlt. Ein Mann hatte sich dicht an die Tänzerin gepresst, seine Arme unter ihre Kniekehlen geschoben und den Stoff ihres Kleides zerdrückt. Die linke Gesichtshälfte der Frau war gegen das Gemäuer gepresst, und ihre Finger kneteten den Rücken des Mannes. Sie keuchte zunächst nur sehr leise, als sei sie vom Tanz erschöpft. Sobald sie zu schreien begann wie eine lüsterne Katze, verschwanden Alice und ihr Begleiter um die nächste Ecke, denn hilfreiches Eingreifen war hier nicht vonnöten.
Alice heftete ihren Blick auf das Straßenpflaster, damit niemand die widersprüchlichen Empfindungen an ihrem Gesichtsausdruck ablesen konnte. Widerwillen mischte sich mit der Faszination des Verbotenen, denn obwohl sie diese Tänzerin für ihre Schamlosigkeit verurteilte, hatte sie sich für einen winzigen Augenblick gewünscht, an ihrer Stelle sein zu können. Es musste an diesem Land liegen, das sie umstülpte wie einen ungeschickt ausgezogenen Handschuh und das nach außen brachte, was verborgen bleiben sollte.
»Die Menschen hier sind vielleicht etwas … impulsiver, als Sie es von zu Hause gewöhnt sind«, kommentierte Juan Ramirez das Erlebnis. Alice nickte, ohne den Kopf zu heben. Die Haltlosigkeit, deren Zeuge sie beide geworden waren, hatte einen Keil der Verlegenheit zwischen sie beide getrieben. Als sie die prachtvolle Fassade des Hotels erkannte, atmete sie erleichtert auf. Nun würde sie ihren Rausch ausschlafen und vielleicht trotz aller Hitze mit einem klaren Kopf aufwachen.
Der Garten duftete noch stärker als nach ihrer Ankunft. Er war so leer und unerwartet still, dass sie das Geräusch ihrer Schritte als laut empfand.
»Ich hoffe, der erste Abend in meiner Heimat hat Ihnen gefallen, Mademoiselle Wegener«, sagte er mit der üblichen tadellosen Höflichkeit. Alice wagte, Juan Ramirez wieder anzusehen. Sein Gesicht war plötzlich sehr ernst, fast andächtig. Harry hatte sie in manchen, sehr intimen Momenten so verzückt betrachtet, doch ihr war das immer unangenehm gewesen. Nun schien eine solche Verehrung von einem wunderschönen Mann einfach nur schmeichelhaft. In ihrem Unterleib kribbelte eine von Hitze, Farben und Tequila aufgewühlte Sehnsucht. Plötzlich hoben ihrer beider Hände sich gleichzeitig, als folgten sie den Vorschriften eines einstudierten Tanzes. Alice schlang ihre Arme um die schmalen Schultern, während er sie an sich zog und seine Lippen auf die ihren presste. Der Schnurrbart kratzte sie. Sie atmete den Duft von Rasierwasser ein, als sie Juan Ramirez gierig küsste. Seine Hände huschten über ihren Rücken. Alice keuchte und spürte, wie sie auf das harte Holz einer Bank gedrückt wurde. Gleich würden sie gemeinsam seufzen, stöhnen und schreien wie die zwei Tänzer an der Hauswand. Ihr Unterleib drängte sich sehnsüchtig an den seinen, während der Sternenhimmel über ihr Karussell fuhr. Dann schob sich plötzlich ein anderes, mühsam vergessenes Bild in ihr Bewusstsein. Zwei kreideweiße Männerschenkel, aus denen dunkle Borsten stachen, zuckten über einem Frauenleib, dessen Beine hilflos in der Luft zappelten. Ein Strumpf war bis zum Fußknöcheln hinabgerutscht, der andere saß noch tadellos, ein winziges Detail der Sittsamkeit in einem Arrangement, das nicht sein durfte. Alice wurde kalt. Etwas in ihr brach zusammen. Sie stemmte sich mit aller Kraft gegen den männlichen Körper, der sie niederdrückte.
»Nein!«, rief sie auf Deutsch. Als das verstörte Gesicht von Juan Ramirez sich zwischen Nacht und Sterne schob, sammelte sie mühsam ihre Gedanken.
»Cela n’est pas une bonne idée.«
Er richtete sich auf, zog seinen Plastron zurecht und fuhr sich durch das zerzauste Haar.
»Pardonnez-moi«, murmelte er hastig. Alice strich ihren Rock
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