Der Duft des Regenwalds
schnell. Sie genoss diesen Zustand, doch er wurde von lauten Stimmen zerstört, die in einer unverständlichen Sprache krächzten. Fremde Menschen mit dunklen Gesichtern und langen Haaren erschienen. Es war ein Traum, erkannte sie, denn sie hatte schon einmal von diesen Gestalten in weißen Nachthemden geträumt. Doch nach Ix Chel suchte sie vergeblich, obwohl sie deren Namen rief. Es war kein schöner Traum, nicht so friedlich wie beim ersten Mal. Andrés sprach laut und aufgebracht mit den Fremden, aber sie hörten nicht auf ihn, sondern schubsten ihn mit spitzen Speeren vor sich her. Es ging wieder in den Dschungel zurück. Alice wand sich verzweifelt und schrie, denn sie wollte nicht vom Wasser weg. Andrés drückte sie fester an sich.
»Hab keine Angst. Wenn sie uns töten wollten, dann würden sie es gleich tun«, flüsterte er ihr zu. Sie fand diese Worte nicht sonderlich beruhigend, denn es gab viele unschöne Dinge, die man mit Gefangenen anstellen konnte. Aber das war unwichtig. Ihr Körper schwebte. Sie konnte davonfliegen. Doch als sie es versuchte, gelang es ihr nicht mehr, und sie wurde immer mehr von dem dunklen Dickicht des Dschungels verschlungen.
Sie nahm wahr, wie sie in eine Hütte getragen und auf den Boden gelegt wurde. Das Gesicht einer Frau schob sich über sie. Es war breit und von Falten durchfurcht. Die schmalen Augen blitzten freundlich, während Alice mit einer stark riechenden Salbe eingerieben wurde. Dabei murmelte die Frau unverständliche Worte und wiegte sich vor und zurück, als höre sie leise Musik. Schließlich wurde Alice eine bitter schmeckende Flüssigkeit eingeflößt, die sie schluckte, da ihr die Kraft zum Widerstand fehlte. Vielleicht wollte man sie vergiften. Oder betäuben, um sie anschließend bei einem Ritual zu opfern. Das wäre alles nicht schlimm, weil sie es nur träumte, sagte sie sich und begann zu lachen. Die alte Frau warf ihr einen mahnenden Blick zu, der Alice verstummen ließ. Andrés war verschwunden, vielleicht hatte man ihn bereits umgebracht. Sie schloss die Augen. Der Kopfschmerz hatte nachgelassen, und eine erlösende Schwere drückte sie nieder. Vielleicht würde sie nie wieder aufwachen, wenn sie jetzt einschlief, aber daran war nichts zu ändern.
Sie öffnete die Augen und sah ein Geflecht aus Palmwedeln über sich, durch das spärliches Licht drang. Um sie herum waren dünne Baumstämme zu Wänden aneinandergereiht. Sie lag auf dem Boden und hatte keine Ahnung, wo sie sich befand.
Als sie sich aufrichtete, wurde ihr schwindelig. Sie begriff, dass sie in einer dämmerigen Hütte saß, die noch primitiver war als alle indianischen Behausungen, die sie bisher kennengelernt hatte. Selbst der Comal fehlte hier, ebenso wie jedes Anzeichen von Mobiliar. Draußen krächzte ein Papagei, und Alice erinnerte sich daran, dass sie sich im Dschungel befand. Verzweifelt kramte sie in ihrem Kopf nach Erinnerungen. Sie war mit Andrés unterwegs gewesen, das wusste sie noch genau, doch danach gab es nur Bruchstücke von Bildern, die kein zusammenhängendes Ganzes ergaben. Sie wusste noch, dass sie sich sehr schlecht gefühlt hatte, doch jetzt waren Schmerz und Übelkeit verschwunden. Sie erhob sich. Ihr Kopf berührte fast das Palmdach der Hütte, die für kleinere Menschen erbaut worden war. Ihre Beine zitterten, und als sie an sich hinabblickte, bemerkte sie ein grob gewebtes, grauweißes Gewand, das nur knapp ihre Oberschenkel bedeckte. Sie konnte sich nicht erinnern, es jemals getragen zu haben. Um ihren Hals hing eine Kette, die sie erstaunt abriss. Sie schien aus Pflanzenfasern gewebt. Alice sah sich ratlos in der Hütte um. Neben ihren Füßen lag eine Schale mit einer Hühnerkeule, die köstlichen Duft verströmte. Ihr Magen begann zu knurren, und Alice griff zu, ohne weiter nachzudenken. Sie musste sich stärken. Das Hühnchen schmeckte ungewohnt, aber es stillte ihren Hunger.
Als sie die Knochen säuberlich abgenagt hatte, öffnete sich die Tür der Hütte. Eine fremde Frau stand vor Alice. Sie trug das gleiche Nachthemd aus grobem, schmutzig weißem Stoff, doch es reichte bei ihr über die Kniekehlen, denn sie war klein und stämmig. Das zerzauste Haar fiel über ihre Schultern und hätte einen Kamm vertragen können. Braune Haut, eine markante Nase und hohe Wangenknochen zeichneten sie als Indianerin aus, doch ihrem Auftreten fehlte die von Misstrauen ausgelöste Scheu gegenüber einer Europäerin. Ihr Gesicht strahlte eine warme Freundlichkeit aus,
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