Der Duft des Regenwalds
Englisch, »dieser Junge kann doch Spanisch.«
»Er war mit seinem Vater öfter unterwegs, um Waren zu verkaufen. Dabei hat er ein paar Brocken Spanisch aufgeschnappt«, erwiderte Andrés, der neben dem Maultier herlief. »Was ist so wichtig daran?«
»Er hätte doch selbst mit diesem Enganchador reden können. Wozu haben sie dich gebraucht?«
»Er kann spanisch sprechen, aber nicht lesen. Wahrscheinlich war selbst der Enganchador nicht in der Lage, den Vertrag zu entziffern. Ohne mich hätte der Vater unterschrieben.«
Er klang stolz, einen Mann davor bewahrt zu haben, sich durch ein einziges Kreuz zum Sklaven eines Patrons zu machen. Aber wenn Ricardos Vater dringend Geld brauchte, woher würde er es nun beziehen?
Alice beschloss, dass dies nicht ihr Problem war. Ricardo sollte sie in die Sierra Madre bringen, dann war seine Aufgabe erfüllt. Wenn er bereit wäre, sie bis zu Hans Bohremann zu begleiten, konnte sie ihm zum Abschied vielleicht ein paar Münzen in die Hand drücken, was ihr Gewissen beruhigen würde.
Wieder stand eine Übernachtung im Freien bevor, weil Geld für eine Herberge fehlte. Alice hatte sich inzwischen daran gewöhnt, auch wenn die bevorstehende Ankunft in Hans Bohremanns Hazienda durch die Aussicht auf ein bequemes Bett zu einem verlockenden Traum wurde. Ein paar Tage würde sie es noch aushalten müssen, auf der harten Erde zu schlafen, dann wäre es hoffentlich für immer vorbei.
Andrés erlegte gemeinsam mit Ricardo ein Gürteltier, das ihnen neben den üblichen Tortillas als Abendmahl diente. Der Indio-Junge zauberte völlig unerwartet eine Flasche Aguardiente hervor. Alice verkniff sich die Frage, womit er ihn bezahlt hatte, und nippte gierig daran. Der Schnaps schmeckte bitter und verursachte in größeren Mengen sicher höllische Kopfschmerzen, doch ein paar Schlucke würden ihr das Einschlafen erleichtern.
Sie wusch sich in einem Bach in der Nähe des Lagerfeuers. Daran, wie ihre Kleidung aussehen würde, wenn sie Hans Bohremann erreichte, wollte sie nicht denken. Vermutlich würde Rosario ihr blitzschnell eine neue Garderobe verschaffen, dabei auf ein paar abfällige Blicke aber nicht verzichten. Es war unwichtig, sagte Alice sich, als sie ihre Petate ausrollte und die dünne Wolldecke über sich legte. Sie spürte, wie Andrés, der ein Stück neben ihr lag, sanft ihre Hand berührte.
»Du machst dich erstaunlich gut. Als ich mich damals in dein Zimmer auf der Hazienda geschlichen hatte und du nicht so recht wusstest, ob du in Ohnmacht fallen sollst oder um Hilfe schreien oder beides, da hätte ich dir niemals zugetraut, eine solche Reise zu überstehen.«
»Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben«, erwiderte Alice spöttisch. »Ich tat es wegen Patrick, sonst hätte mich niemand in den Dschungel treiben können. Aber vergessen werde ich diese Erlebnisse wohl niemals.«
Sie umklammerte seine Finger. Zwar hielt er es für ratsam, die Art ihres Verhältnisses vor Ricardo zu verbergen, um den Jungen nicht unnötig zu schockieren, doch eine solche Berührung würde im Dunkeln nicht auffallen. Zudem hatte Ricardo seine Petate ein gutes Stück von ihnen entfernt ausgerollt.
»Ich habe den Eindruck, unser indianischer Führer mag mich nicht besonders leiden«, flüsterte sie Andrés nun zu, dessen Augen spöttisch aufblitzten.
»Er hält dich vielleicht für einen Erdgeist, der arme Indio-Jungen in sein unterirdisches Reich lockt, um sie nie wieder freizulassen. Derartige Geschichten kursierten jedenfalls in meinem Dorf.«
Alice schubste ihn scherzhaft.
»Waren diese Erdgeister denn immer weiblich? In diesem Fall träumten vielleicht einige Jungen von einer solchen Entführung.«
»Sie waren nicht immer weiblich«, entgegnete er. »Doch sie hatten immer gelbes Haar und blaue Augen, so wie die Leute, auf deren Plantagen wir schufteten. Nicht einmal ich hätte mir damals so eine Entführung gewünscht. Heute …«
Wieder blitzten seine Augen in der Dunkelheit auf, und er rückte näher an Alice heran.
»Heute würde ich es vielleicht anders sehen«, fügte er hinzu. Ihre Finger verflochten sich ineinander. Plötzlich fiel Alice ein, was sie Andrés schon lange hatte erzählen wollen.
»Ich habe von Ix Chel geträumt. Im Dschungel, aber noch bevor ich ihr begegnet bin. Es war fast, als wolle sie mich rufen.«
Er regte sich nicht.
»Du hattest die Zeichnung von ihr. Und sie hat dich lange beschäftigt. Für die meisten Träume gibt es meines Erachtens eine sachliche
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