Der Duft des Regenwalds
auf ein Lehmdach über ihrem Kopf, Tortillas und vor allem frischen Kaffee lockte wie ein irdisches Paradies. Die Familien hockten bereits in ihren Hütten, als Andrés und Alice den Dorfplatz betraten. Essensgeruch füllte die abendliche Luft, und Alice hörte ihren Magen knurren. Nachdem Andrés ein paar Worte gerufen hatte, erschien die alte Ix Chel, gefolgt von ihrem Ehemann, dem Kaziken. Die Neuankömmlinge wurden ohne Zögern in die Hütte gebeten. Maruch hatte bereits die Teller gefüllt, und alle rückten etwas zusammen, um Platz zu machen. Erst nachdem Alice und Andrés sich satt gegessen hatten, begannen die Fragen. Andrés erzählte, was Manuel widerfahren war. Maruch schien davon unberührt, aber die zwei kleinen Mädchen weinten. Der Kazike sprach ein paar zornige Worte, doch war es unmöglich einzuschätzen, ob er sich über die Dummheit seines Sohnes oder die Ungerechtigkeit der Welt empörte.
»Was wird Maruch jetzt machen?«, flüsterte Alice Andrés zu, während sie einen weiteren Schluck von dem herrlich duftenden Kaffee nahm.
»Vermutlich sucht sie sich einen anderen Mann. Manuel hatte es sich bereits gründlich mit ihr verdorben. Sie hätte ihn ohnehin bald verlassen.«
»Aber sie hat schon zwei Töchter«, erwiderte Alice. Sie fragte sich, wie viele Männer bereit wären, diese Verantwortung zu übernehmen. In Berlin hatten ledige Mütter oft darüber geklagt, wie schnell Kindergeschrei neue Liebhaber in die Flucht schlug.
»Das spricht für sie«, erwiderte Andrés. »Kein Mann will eine unfruchtbare Frau. Für die Mädchen wird gesorgt werden, und Maruch bleibt nicht lang allein, sie ist hübsch und fleißig. Bei uns geht das ohne viele Formalitäten. Sie braucht keine Scheidung einzureichen. Wenn Manuel lange genug fort ist, dann gilt sie wieder als unbemannt.«
Alice stellte fest, dass die Sitten der Indianer ihre Vorzüge hatten. Sie spürte den Blick der alten Ix Chel auf sich ruhen. Ihr schien, dass kein Gespräch vonnöten war. Die Frau wusste, dass sie ihre Tochter getroffen hatte und nun im Besitz der Kette war.
»Sag ihr, dass alles in Ordnung ist. Ihrer Tochter geht es gut, und ich werde alles versuchen, um Patricks Mörder zur Strecke zu bringen«, sagte sie zu Andrés, der leise übersetzte. Ein kurzes Gespräch fand statt, dann wandte er sich wieder an Alice.
»Sie sagt, dass ein Ladino hier war, der nach uns fragte. Eine blonde Frau und ein Indio sind ein ungewöhnliches Gespann. Er wollte wissen, ob uns jemand gesehen hat.«
Alice spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief.
»Meinst du, Dr. Scarsdale hat ihn geschickt?«, flüsterte sie. »Ich hätte ihm nicht so viel erzählen sollen, das war dumm von mir!«
»Irgendwie musstest du ja begründen, warum du ihm bis nach Palenque folgen wolltest«, erwiderte Andrés. »Mach dir nicht zu viele Sorgen, er hat keine Ahnung, wohin wir gegangen sind. Und ein Ladino, der in Indio-Dörfern herumfragt, wird meistens mit Lügengeschichten abgespeist. Aber trotzdem sollten wir so schnell wie möglich aus dieser Gegend verschwinden. Kannst du dein Haar nicht irgendwie färben?«
Sie hob ratlos die Hände.
»Womit denn? In einer großen Stadt könnte ich sicher ein Mittel auftreiben, aber hier? Ich bezweifle, dass die Indianerinnen schwarze Haarfarbe brauchen. Ich werde einen Hut aufsetzen, mehr kann ich nicht tun.«
Andrés nickte.
»Wir reisen morgen ab. Je eher wir in die Sierra Madre kommen, desto sicherer dürften wir vor unserem Verfolger sein. Auf die Idee, dass ich freiwillig zu Hans Bohremann zurückgehe, wird er wohl kaum kommen.«
Alice nahm es seufzend hin. Sie hätte sich zwar gern noch ein wenig ausgeruht und innerlich auf das Gespräch mit Hans Bohremann vorbereitet, doch sie sah ein, dass sie schnell vorwärtskommen mussten. Dann fiel ihr ein weiteres dringliches Problem ein.
»Wie reisen wir denn? Ich habe keinen einzigen Centavo mehr, um einen Esel zu kaufen, von einem Karren ganz zu schweigen.«
»Ix Chels Eltern sind bereit, uns zu helfen. Wir bekommen unser Maultier wieder«, beruhigte Andrés sie. »Und ein Junge aus dem Dorf wird uns einen schnellen Weg nach San Juan de Chamula zeigen, dem Indianerdorf, das nahe bei Jovel, also San Cristóbal, liegt. Ich soll seinen Vater dafür morgen bei der Verhandlung mit einem Enganchador unterstützen, der ihn für eine Plantage anwerben will. Wer den Vertrag lesen kann, wird nicht so leicht betrogen.«
»Das hast du alles ausgehandelt, während wir beim
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