Der Duft des Regenwalds
Erklärung. Sie sind Spiegel unserer Sorgen und Wünsche, nicht Botschaften von Göttern.«
Alice musste lachen.
»Meine Güte, du bist wirklich Ingenieur mit Leib und Seele. Hast du auch mit deinem Vater so geredet?«
»Nein«, erwiderte er ernst. »Vieles habe ich erst begriffen, als ich studierte und in Kontakt mit Ladinos, Europäern und Nordamerikanern kam. Aber du täuschst dich, wenn du uns Indios alle für völlig abergläubisch und rückständig hältst. Ich glaube, auch mein Vater zweifelt an der Existenz von Geistern und Göttern. Er will nur unsere alten Traditionen und Rituale bewahren, damit wir nicht vergessen, wer wir sind.«
»Ich habe niemanden als rückständig bezeichnet!«, protestierte Alice. Sie musste laut gesprochen haben, denn über ihr krächzten die in ihrer Nachtruhe gestörten Vögel. »Ich sagte doch schon, dass ich selbst über die Träume staune, die ich im Dschungel hatte. Ich sah Ix Chel in ihrem Dorf, obwohl ich das Dorf nicht kannte. Und später, da sah ich Patrick, fast als wollte er mir etwas mitteilen, und …«
»Du hattest sehr hohes Fieber«, unterbrach Andrés sie und drückte ihre Hand. »Daher diese Träume. Du steigerst dich in etwas hinein. Wir Indios sind einfach nur arme Bauern, keine edlen Wilden mit übernatürlichen Fähigkeiten, die wir sogar auf andere Menschen übertragen können.«
»Vielleicht unterschätzt du die Fähigkeiten deines Volkes«, beharrte Alice. »Vielleicht habt ihr Talente, die bei uns Europäern verloren gegangen sind.«
Seine Antwort war ein Murren, das nicht überzeugt klang.
»Träumst du denn nie?«, fragte sie.
»Doch, natürlich«, gab er zu. »Aber ich halte diese Träume nicht für wichtig. Nur das, was ich mir im Wachzustand denke und wünsche, zählt.«
Alice gab die Diskussion auf. Sie hätte ihn gern gefragt, wie seine Wünsche bezüglich ihrer Person aussahen, hielt das aber für unpassend. Es war nicht ihre Art, Liebeserklärungen zu erflehen, und tief in ihrem Herzen wusste sie, dass eine solche Erklärung ihr Angst gemacht hätte. Aber gleichzeitig sehnte sie sich danach.
Sie hörte seine Atemzüge tiefer und ruhiger werden. Er konnte sehr schnell einschlafen, wachte aber auch ebenso schnell auf, wenn das geringste verdächtige Geräusch erklang. Ihr selbst fiel es deutlich schwerer einzuschlafen. Plötzlich tauchte Marianas Hundegesicht auf und sah sie traurig, fast vorwurfsvoll an. Der Hund war noch in Palenque. Sie durfte nicht vergessen, ihn zu holen, wenn alles geklärt war. Auch Julio hatte eine Belohnung für seine treue Unterstützung verdient. Die Möglichkeit, dass es ihr nicht gelingen würde, Hans Bohremann von ihrer Geschichte zu überzeugen, und sie daher nicht nach Palenque zurückkehren könnten, schob sie entschieden beiseite.
Ein leichtes Rütteln an ihrer Schulter weckte sie. Sie schlug die Augen auf, sah aber nur dichtes Geäst über sich, durch das spärliches Mondlicht drang.
»Ich habe Schritte gehört«, flüsterte Andrés. »Und Ricardo ist verschwunden.«
Alice rieb sich die Augen. Es musste mitten in der Nacht sein, und ihr Körper war schwer wie Stein. Sie sehnte sich danach, bis zum Morgengrauen weiterschlafen zu können.
»Wahrscheinlich ist er aufgestanden, weil … weil es hier zwar keine Toiletten gibt, aber Baumstämme, hinter denen man sich verstecken kann«, murmelte sie und drehte sich herum, um weiterzuschlafen.
»Mir gefällt das nicht«, beharrte Andrés. »Ich werde nach ihm sehen.«
Alice schloss wieder die Augen, konnte aber nicht mehr einschlafen. Tief in ihr nagte Unruhe. Angespannt lauschte sie und hörte, wie Andrés sich vorsichtig entfernte. Ihr wurde bewusst, dass ihre Sinne in der letzten Zeit schärfer geworden waren, denn anfangs hatte sie die Schritte der Indianer für geräuschlos gehalten. Sie blieb starr auf ihrer Petate liegen und wartete auf seine Rückkehr. Lange blieb es nahezu unheimlich still, als seien in dieser teils gerodeten, an manchen Stellen aber noch von dichtem Wald überwucherten Landschaft am Rande des Dschungels sogar alle Tiere verstummt. Dann hörte sie plötzlich Ricardos Stimme und atmete erleichtert auf. Schon knackten Zweige, jemand trat sehr schwer auf. Nach Andrés klang es nicht.
»Quién está?«, rief sie, erhielt aber keine Antwort. Die Schritte kamen näher. Alice richtete sich auf und starrte angestrengt ins Dunkel. Zwei Gestalten traten aus dem Dickicht der Bäume. Sie erkannte Ricardo, was sie ein wenig beruhigte, doch
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