Der Duft des Regenwalds
sein Erbe nutzen, um ungestört an Ihrem Fortkommen als Malerin arbeiten zu können.«
Alice wusste, dass dies stimmte. Patrick hatte den Archäologen bewundert und ihm wohl auch viele persönliche Dinge anvertraut.
»Eine Sache noch«, begann sie schließlich. »Als … als man Patrick das Herz aus der Brust schnitt, hat er da noch gelebt?«
Wieder musste sie sich an der Stuhllehne festhalten. Dr. Scarsdale blinzelte kurz.
»Er war bereits tot, laut Aussage des Arztes. Ein Schlag auf den Kopf, heißt es, vermutlich von hinten. Das Ritual war einfacher zu vollziehen, wenn man ihn vorher außer Gefecht setzte.«
Sie stand langsam auf und stellte fest, dass ihre Füße ihr Gewicht tragen konnten.
»Ich danke Ihnen für die Zeit, die Sie sich genommen haben. Jetzt sollte ich mich vielleicht wieder eine Weile hinlegen.«
Ein mitfühlendes Lächeln huschte über das Gesicht von Dr. Scarsdale.
»Wenn Sie nicht einschlafen können, dann geben Sie mir Bescheid, und ich lasse den Arzt rufen. Er gibt Ihnen wieder ein Mittel. Sie müssen sich ausruhen. Ich erkundige mich indessen, wann Sie nach Hause fahren können. Der Leichnam Ihres Bruders ist bereits identifiziert, Hans Bohremann und ich werden uns um alle Formalitäten kümmern. Hierzulande ist das viel unkomplizierter.«
Alice, die bereits im Begriff war, den Raum zu verlassen, fuhr herum.
»Wer sagt denn, dass ich gleich wieder nach Deutschland fahren will?«, sagte sie. Auf einmal stand sie fest auf dem Boden. »Ich brauche noch ein oder zwei Tage, um mich zu erholen. Dann will ich nach Chiapas reisen und mehr darüber erfahren, was mit Patrick geschehen ist.«
Dr. Scarsdale zuckte zusammen. Kurz vermeinte sie, Ärger in seinen klugen Augen aufblitzen zu sehen.
»Schlafen Sie erst einmal. Dann reden wir weiter«, sagte er freundlich. Alice nickte und ging, denn ihr fehlte die Kraft zu einer weiteren Auseinandersetzung.
Die nächsten Tage verbrachte sie in einem unruhigen Dämmerzustand. Im Schlaf suchten sie Albträume heim. Sie sah dunkle Gesichter mit geschwollenen Lippen und krummen Adlernasen, die Messer in Patricks schmächtigen Leib bohrten. Sein Herz pochte als roter Klumpen in ihren blutüberströmten Händen. Jedes Mal erwachte sie schweißgebadet, empfand kurz einen Moment tiefer Erleichterung, wenn sie die vertrauten Wände des Hotelzimmers sah, doch gleich darauf brach die Erinnerung an Patricks Tod über sie herein. Manchmal stand sie auf und drehte Runden durch das Zimmer, denn Weinkrämpfe machten es ihr unmöglich, nach draußen zu gehen. Sie wartete, bis der Schmerz an Schärfe verlieren würde. Da sie immer wieder vergaß, das Fenster zu schließen und das Moskitonetz zuzuziehen, war sie bald von Stichen übersät. Als sie in den Spiegel sah, glich ihr Gesicht aufgequollenem Teig mit vielen roten Tupfen. Im Geiste hörte sie Tante Gretes tadelnde Stimme. So wirst du keinem Mann gefallen, Kind. Sie begann zu lachen, bis wieder Tränen über ihre Wangen liefen.
Dreimal täglich erschien ein mexikanisches Mädchen in schwarzem Kleid und weißer Schürze, um ihr Mahlzeiten zu bringen. Sie warf stets einen besorgten, aber auch befremdeten Blick auf die im Nachthemd auf der Matratze ruhende Fremde, um dann mit einem künstlichen Lächeln das Tablett neben dem Bett abzustellen. Alice versuchte zu essen, aber mehr als ein paar Scheiben trockenen Brots wollte ihr Magen nicht aufnehmen. Ihre größte Sehnsucht galt Juan Ramirez, denn er war bisher der einzige Mensch in diesem fremden Land, dem sie sich nahefühlte. Bisher hatte sie niemals in ihrem Leben ein derartiges Verlangen nach der Nähe eines Mannes empfunden, nach einer Berührung, nach ein paar tröstenden Worten. Sie wollte noch einmal in seinen Armen weinen können. Aber er betrat ihr Zimmer nicht mehr, und eine letzte Stimme der Vernunft hinderte sie daran, laut nach ihm zu rufen. Mitunter glaubte sie, seine Stimme auf dem Gang zu vernehmen. Er redete in schnellem, unverständlichem Spanisch mit dem Dienstmädchen, einmal auch auf Englisch mit Dr. Scarsdale, doch diese Unterhaltung war zu leise. Alice verließ ihr Zimmer nur, wenn ihr Körper sie zwang, sich zur Etagentoilette zu schleppen. Selbst dann wartete sie stets ab, bis es völlig ruhig war. Sie wusste, dass sie keinen akzeptablen Anblick bot, wenn sie sich, in eine Decke gehüllt, an der Wand abstützte, um vorwärtszukommen.
Nach vier qualvollen Nächten gelang es Alice, das Moskitonetz bei Einbruch der Dämmerung zuzuziehen
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