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Der Duft des Regenwalds

Der Duft des Regenwalds

Titel: Der Duft des Regenwalds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Zapato
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Mensch gewesen, mit dem sie ihre Träume und Ängste geteilt hatte, und jetzt gab es niemanden mehr. Erstaunlicherweise erschreckte der Zustand sie nicht mehr so sehr wie noch vor einigen Tagen. Sie war es gewöhnt, allein zu sein, doch dies einem Menschen zu sagen, der so selbstsicher über das gesellschaftliche Parkett zu gleiten verstand wie Juan Ramirez, widerstrebte ihr, da sie nicht auf Verständnis hoffen konnte.
    »Wenn ich offen reden darf«, begann sie, »diese ganze Angelegenheit kommt mir merkwürdig vor. Ich komme hier an, weil Dr. Scarsdale mich aus irgendwelchen Gründen unbedingt in Mexiko haben wollte. Mein Bruder erscheint nicht, um mich abzuholen, dann taucht eine Woche später Dr. Scarsdale auf, teilt mir mit, dass mein Bruder tot ist, und will mich auf dem nächsten Dampfer wieder nach Hause schicken. Warum hat niemand von der Polizei mit mir gesprochen? Wo ist die ärztliche Bestätigung von Patricks Tod? Es ist, als wolle man mich einfach nur loswerden, um dann alles nach eigenem Gutdünken regeln zu können.«
    Sie atmete tief durch. Ihr war klar, dass sie deutliches Misstrauen geäußert hatte, das auch Juan Ramirez galt, doch sein Gesicht blieb unbewegt. Der Schnurrbart glänzte, das Hemd saß tadellos, und sie musste sich eingestehen, dass er ihr immer noch gefiel.
    »Ich begreife, dass Ihnen all dies merkwürdig erscheint, aber Chiapas liegt nicht in Europa«, erklärte er. »Hier in Veracruz haben Sie vielleicht den Eindruck gewonnen, dieses Land sei inzwischen zivilisiert. Teile davon sind es auch, vor allem die großen Städte, aber Chiapas ist hauptsächlich von den Ureinwohnern bevölkert. Unser neuer Präsident, Porfirio Díaz, ist sehr bestrebt, Mexikos Entwicklung voranzutreiben. Daher überließ er europäischen Siedlern zu sehr günstigen Preisen Land in Chiapas, auf dem sie Kaffeeplantagen gründeten. Sie erwiesen sich als tüchtig und wurden schnell reich. Als Gegenleistung wird von ihnen erwartet, dass sie in der Region für Ordnung sorgen. Natürlich gibt es einen von der Regierung ernannten Gouverneur in der Hauptstadt Tuxtla Gutiérrez, doch in seinen Entscheidungen richtet er sich weitgehend nach dem Willen der Kaffeebarone. Sie halten die wahre Macht in ihren Händen, und unsere Regierung überlässt es daher gerne ihnen, Straftaten aufzuklären.«
    Alice zerdrückte die letzten Kuchenkrümel mit ihrer Gabel. In Gedanken hörte sie Harrys spöttische Bemerkungen über eine solche Art der Gerichtsbarkeit.
    »Eine Oligarchie also«, gab sie jenes Wissen weiter, das Harry ihr durch lange politische Vorträge vermittelt hatte. Kurz verzog sich Juan Ramirez’ Gesicht und ließ ihn ratlos aussehen.
    »Die Herrschaft von wenigen über viele«, half Alice ihm aus der Verlegenheit. Nun meldete sich wieder die Stimme von Tante Grete in ihrem Kopf und wies sie spöttisch darauf hin, wie sehr Männer es liebten, von neunmalklugen Frauen belehrt zu werden.
    »Ja, so in etwa«, gab er zu. »Aber die wenigen können fähiger sein als die vielen anderen.«
    Alice legte die Kuchengabel zur Seite.
    »Selbst wenn Sie damit recht haben, so möchte ich doch mitbekommen, wie in diesem Fall verfahren wird.«
    Ein Schatten huschte über das schöne Männergesicht. Für einen Moment sah Juan Ramirez fast wütend aus, dann lächelte er wieder.
    »Sie sind eine sehr hartnäckige Frau. Aber überschätzen Sie sich bitte nicht. Veracruz ist noch ein recht angenehmer Ort für eine europäische Dame, doch in Chiapas erwarten Sie nichts als Dschungel, Berge und ein paar Kaffeeplantagen. Dazu kommen Moskitos, Schlangen, Skorpione und Indios mit barbarischen Sitten. Mit Verlaub, Mademoiselle Wegener, für eine solche Region sind Sie nicht geschaffen.«
    Das Lächeln war zu einem festen Bestandteil seines Gesichts geworden. Alice überkam plötzlich der Wunsch, es zu zerkratzen.
    »Wenn dies Ihre Meinung ist, dann kann ich daran nichts ändern«, erwiderte sie spitz. »Aber ich versichere Ihnen, dass ich nach Chiapas fahren werde. Wenn weder Sie noch Doktor Scarsdale mich dorthin begleiten wollen, dann schaffe ich es auch allein.«
    Sie legte beide Hände auf den Tisch. Angst stieg in ihr hoch, doch nachdem dieser Entschluss ausgesprochen war, würde sie ihn nicht mehr zurücknehmen können.
    Juan Ramirez musterte die kristallenen Lüster des Kaffeehauses. Er hatte recht, befand Alice, man konnte in diesem großen Saal mit Stuckdecke, Spiegeln und gediegenen Ölbildern an den Wänden tatsächlich den

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