Der Duft des Regenwalds
Täuschte sie sich oder war etwas an Juans Verhalten anders geworden? Er schien auf einmal sehr förmlich und abweisend.
»Wer sagt denn, dass ich gleich nach Hause will? Ich kann doch nicht so einfach davonlaufen, nachdem …« Sie verstummte für einen Moment, atmete tief durch und beschloss, sich den Tatsachen zu stellen. »Ich will dieses Land nicht verlassen, bevor ich nicht genau erfahren habe, warum mein Bruder auf solch grausame Art ermordet worden ist.«
Juan Ramirez ging rückwärts zur Tür. Erstaunlicherweise wich er dabei ihrem Blick aus.
»Wie Sie meinen, Mademoiselle. Ich werde mit Dr. Scarsdale reden.«
Dann verschwand er nach draußen. Alice streckte sich auf ihrem Bett aus. Irgendwann würde das Grauen Normalität werden. Sie würde jeden Tag aufstehen, essen, arbeiten und schließlich wieder einschlafen, in dem Wissen, dass sie keinen Bruder mehr hatte. Zu dem Zeitpunkt, da ihre Mutter starb, war sie noch ein kleines Kind gewesen, das nicht wirklich begriff, was geschehen war. Vom Tod ihres Vaters vor zwei Jahren hatte sie durch Patrick erfahren. Die Nachricht war wie ein schwerer Schlag auf den Kopf gewesen, der sie kurzfristig betäubte. Danach war das Leben weitergegangen. Sie hatte keine Tränen vergossen, aber auch keine Erleichterung empfunden, dass ein Mann, den sie lange gefürchtet und schließlich gehasst hatte, vom Erdboden verschwunden war. Stattdessen war sie manchmal von einer unsichtbaren Last niedergedrückt worden, die sie ignorieren, aber niemals ganz abschütteln konnte. Doch niemals hatte der Tod einen solchen Abgrund in ihre Welt gerissen.
»Ein indianisches Ritual«, wiederholte sie langsam Dr. Scarsdales Worte. In ihren Händen hielt sie eine weitere Tasse starken, wohlschmeckenden Kaffee. Ihr Kopf fühlte sich an, als habe man ihn mit Watte ausgestopft, was vermutlich an den Beruhigungsmitteln lag. Koffein würde vielleicht helfen, ihren Verstand wieder zu schärfen.
»Patrick erzählte mir davon, dass in den alten indianischen Kulturen Menschenopfer üblich waren.« Sie war stolz auf sich, weil sie völlig ruhig sprechen konnte, so als wäre dies eine Unterhaltung zwischen kulturinteressierten Weltenbummlern. »Aber das ist doch schon sehr lange her. Soviel ich weiß, sind die Mexikaner jetzt fast alle Katholiken.«
Dr. Scarsdales Augen waren von so hellem Blau, dass die Farbe manchmal kaum zu erkennen war und sie wässerig wirkten. Für das heiße Klima Mexikos schien er ebenso wenig geschaffen wie Alice selbst. Sie staunte, wie blass seine Haut war, denn er musste während der Ausgrabungen häufig der Sonne ausgesetzt gewesen sein. Vermutlich hatte er einen breitkrempigen Hut getragen, überlegte sie, denn Patrick hatte in einem seiner Briefe erwähnt, dass die Hitze in Palenque kaum zu ertragen sei. Die Hände des Archäologen waren sonnenverbrannt, knotig und von dicken Adern durchzogen. Sie erinnerte sich an die Schwielen, die sie gespürt hatte, als er ihr die Hand gab. Jetzt wurde ihr bewusst, dass er trotz akademischen Titels vermutlich mit den Händen arbeitete. Doch nun lagen seine Hände ruhig auf dem Tisch, während er Alice ernst ansah.
»Die meisten Mexikaner sind Katholiken, das stimmt, aber dennoch haben sich indianische Traditionen gehalten. Diese Völker sind zwangsweise christianisiert und brutal unterdrückt worden«, erklärte er. »In ihrem Widerstand versuchten sie immer wieder, Kraft aus ihren alten Ritualen zu ziehen.«
Alice nickte. In ihrem eigenen Leben hatte sie Traditionen stets als Fesseln empfunden, die Menschen das Leben erschwerten. Doch es schien ihr nicht angebracht, jetzt darüber zu diskutieren.
»Wie können Menschen Kraft aus einem Mord schöpfen?«, fragte sie. »Und warum soll auf einmal, nach Hunderten von Jahren, ein solcher Mord wieder stattgefunden haben? Es … es ergibt keinen Sinn. Ich glaube, es muss alles ganz anders gewesen sein, ich meine, es gab andere Gründe für diesen Mord.«
Als ein paar der Kaffee trinkenden Hotelgäste sich nach ihr umsahen, wurde ihr bewusst, dass sie sehr laut gesprochen hatte. Dr. Scarsdales Finger formten Bögen auf der Tischdecke.
»Sie sind sehr aufgebracht, Miss Wegener. Das verstehe ich. Aber ich habe fast zwei Jahre in diesem Land verbracht. Gerade in Chiapas hatte ich viel Umgang mit indianischen Ureinwohnern. In dieser Region wurden sie erst vor einigen Jahrzehnten von der Zivilisation, ich meine natürlich unsere Zivilisation, berührt. Daher sind sie noch sehr stark ihrem
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