Der Duft des Regenwalds
rote Adern auf Wangen und Nasenflügeln zu sehen, und aus dem grauen Haar rieselten ein paar Schuppen, als er es zurückstrich.
»Miss Wegener, Patrick … Ihr Bruder … er ist tot.«
Es dämmerte bereits, als sie wieder erwachte. Durch das geöffnete Fenster strömte kühle Abendluft herein, und als sie die hellen Möbel und angenehm leuchtenden Farben der Bilder an den Wänden erblickte, war sie für einen Augenblick glücklich. Zufrieden reckte sie sich wie eine schnurrende Katze. Sie hatte einen Mann geküsst und dabei weder Ekel noch Furcht vor allzu heftiger Leidenschaft empfunden, sondern sich endlich wie eine normale junge Frau verhalten. Sie fühlte sich sicher in ihrer ersten Verliebtheit, anders als bei Harry, bei dem sie ständig zwischen rebellischer Zügellosigkeit und kalter Zurückweisung schwankte.
Sie setzte sich auf. Die Zunge klebte wie ein übel schmeckender Lappen an ihrem Gaumen, und ihr Kopf begann nach der schnellen Bewegung so heftig zu schmerzen, dass sie ihre Hände an die Schläfen presste. Hatte sie zu viel getrunken? An Tequila erinnerte sie sich, der Geschmack stieg aus ihrer Kehle hoch, sie würgte. Ein Indio-Dorf fiel ihr ein, das aus der Ferne malerisch bunt, bei genauem Hinsehen jedoch sehr ärmlich gewirkt hatte. Dort war dieses Land immer noch aufregend in seiner Fremdheit gewesen, aber dann war irgendetwas geschehen. In ihrem Gedächtnis schwebte ein schwarzer, bedrohlicher Schatten, dem sie zu entkommen versuchte, doch obwohl sie sich hin und her wälzte, die Decke über den Kopf zog und hartnäckig ihre Augen schloss, holte er sie ein, verwandelte sich allmählich in Bilder mit klaren Farben und Formen.
Sie sah eine scharfe Klinge aufblitzen und rote Fontänen, die aus einem wehrlosen Körper schossen. Entsetzt presste sie ihre Hände auf den Mund, biss sich auf die Knöchel, bis sie Blut schmeckte. Dann fing sie an zu schreien, als könnte sie die Zeit allein mit der Kraft ihrer Stimme zurückdrehen, Patrick in Berlin dazu überreden, einen soliden Beruf zu ergreifen, statt in der Wildnis nach den Ruinen eines blutrünstigen Volkes zu suchen.
Die Zimmertür flog auf.
»Alice! Que pasa?« Ein Strom spanischer Worte prasselte auf sie nieder, als Juan Ramirez an ihrer Seite auftauchte und sie entsetzt an den Schultern packte. Sie wurde gegen den Batiststoff seines Hemdes gedrückt, atmete den Duft von Rasierwasser ein. Es erstaunte sie, wie warm und tröstend ein männlicher Körper sein konnte. Eine Weile klammerte sie sich an ihn, befleckte das teure Hemd mit Speichel und Tränen, während sie gestreichelt wurde wie ein verletztes Kind.
»Es tut mir leid, so schrecklich leid. Ich hatte gehofft, unser Land würde dir gefallen«, flüsterte er auf Französisch, während sich Alice allmählich wieder beruhigte. In dem Bewusstsein, ein elendes, verheultes Wesen zu sein, entzog sie sich schließlich seiner Umarmung.
»Dein Land hat mir gefallen«, gestand sie, während sie ihre Gedanken zu ordnen versuchte. »Ich hasse es auch jetzt nicht, ich verstehe nur nicht, wie …«
Sie sog Luft in ihre Lungen. Ihr Körper fühlte sich immer noch zerstört an, als wäre sie vor einen fahrenden Zug geworfen worden. Aber sie wollte verstehen, was wirklich geschehen war.
»Wo ist Dr. Scarsdale? Ich muss noch einmal mit ihm reden. Ich bin mir sicher, er hat mir alles Wichtige gesagt, aber ich war nicht in der Lage, es zu begreifen.«
Plötzlich ließ Juan seine Arme sinken. Sie meinte, in einen kalten Abgrund zu fallen.
»El doctor hat hier ein eigenes Zimmer. Ich kann ihn holen. Aber vielleicht brauchst … brauchen Sie noch einen richtigen Arzt, Mademoiselle Wegener. Man hat Ihnen bereits ein Beruhigungsmittel gegeben, damit Sie eine Weile schlafen konnten. Etwas mehr Ruhe würde Ihnen sicher guttun.«
Er strich sein Hemd glatt und rückte die Weste zurecht, als sei er bereits im Aufbruch begriffen.
»Ein Arzt und seine Medikamente können nichts an dem ändern, was geschehen ist«, erwiderte Alice. »Ich möchte noch einmal genau hören, wie … wie mein Bruder starb. Es ist mir unbegreiflich, wie so etwas geschehen konnte.«
Juan Ramirez trat ein paar Schritte zurück.
»Ich gebe Dr. Scarsdale Bescheid, dass Sie mit ihm reden wollen«, versprach er dann. »Wenn Sie wünschen, erkundige ich mich auch gleich am Hafen, wann der nächste Dampfer nach Deutschland fährt. In Ihrer Heimat können Sie sich sicher schneller von dem Schock erholen.«
Alice riss die Augen auf.
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