Der Duft des Regenwalds
und in einen tiefen, traumlosen Schlaf zu fallen. Sie erwachte erst, als die Mittagssonne in das kleine Zimmer fiel, doch sie fühlte sich weniger geschwächt. Mit unerwartetem Heißhunger verzehrte sie drei Brötchen, die neben ihr auf dem Nachttisch lagen, bestrich sie vorher großzügig mit fast geschmolzener Butter und süßer Erdbeermarmelade. Sie vermochte wieder Freude am Essen zu empfinden. Nachdem sie eine große Tasse lauwarmen Kaffee geleert hatte, überkam sie plötzlich der unüberwindliche Drang, dieses Zimmer zu verlassen.
Ihr war nicht mehr schwindelig, als sie aufstand. Sie ging zum Waschbecken und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Nach einer schnellen, aber gründlichen Wäsche zog sie den blauen Rock an und holte eine weitere Rüschenbluse aus dem Koffer. Sie war zerknittert, aber daran ließ sich nichts ändern. Alice kämmte ihr feuchtes Haar und brachte es mit ein paar Spangen in Form. Der Besuch der Etagentoilette bereitete ihr keine Mühe mehr. Gedanken drehten sich in ihrem Kopf. Sie musste Tante Grete ein Telegramm schicken, da die Schwester ihres Vaters ihre einzige noch lebende Verwandte war. Ihr war unwohl bei der Vorstellung, diesen Kontakt wiederaufleben zu lassen, denn bei ihrem letzten Gespräch hatte die Tante Alice eine verwöhnte, selbstsüchtige Göre genannt, einen Schandfleck der Familie, der im Hause nicht mehr erwünscht war. Vielleicht wäre unter diesen Umständen eine kurze, sachliche Kommunikation möglich. Zudem musste der Generalbevollmächtigte des Bankhauses Wegener benachrichtigt werden, in dessen Hände Patrick alle Entscheidungsgewalt gelegt hatte. Dummerweise wollte ihr sein Name nicht einfallen, da sie sich nie um solche Dinge gekümmert hatte. Aber Tante Grete würde ihn sicher kennen. Sie musste nur herausfinden, wo sich in Veracruz ein Telegrafenamt befand.
Entschlossen drückte sie die Klinke nieder und trat auf den Gang. Das Muster des Teppichs bestand aus ineinanderfließenden, harmonisch abgestimmten Farbstreifen. Alice wollte einen Pinsel ergreifen, um Ölfarben zu mischen, bis sie die richtigen Nuancen traf. Jeder Winkel in diesem Land verlangte danach, gemalt zu werden, und als die Umrisse von Bildern in ihrem Kopf entstanden, fühlte sie sich völlig frei von Angst und Schmerz.
Sie klopfte an der Tür von Juans Zimmer. Eine Weile blieb es still. Sie überlegte, dass er ausgegangen sein musste, als plötzlich das vertraute attraktive Männergesicht in dem Türspalt erschien.
»Mademoiselle Wegener. Ist Ihnen nicht wohl? Soll ich einen Arzt rufen?«
Er schien unwillig, die Tür ganz zu öffnen. Alice straffte die Schultern.
»Es geht mir jetzt besser. Ich will nicht dauernd in meinem Zimmer herumliegen. Können Sie mir in Veracruz das Telegrafenamt zeigen?«
Ein Stachel saß in ihrer Brust. Sie schämte sich, dass sie ein paar Tage nach dem Tod ihres Bruders darunter litt, von einem einst glühenden Verehrer kühl empfangen zu werden, vermochte aber nichts daran zu ändern.
»Aber ja, natürlich, das Telegrafenamt. Sie müssen Ihre Familie benachrichtigen. Warten Sie bitte einen Moment.«
Die Tür fiel zu. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis Juan Ramirez, tadellos gekleidet und nach Rasierwasser duftend, vor ihr auftauchte, um sie zu begleiten. Sie liefen eine Weile durch die vor Leben sprudelnde Stadt, wo das Bimmeln von Trambahnen und Wiehern von Pferden sie für einen Moment an Berlin erinnerten. An die spanische Sprache und an die Melodien, die hier an allen Ecken erklangen, hatte sie sich inzwischen ebenfalls gewöhnt, denn diese Geräusche waren beständig an ihr Ohr gedrungen, als sie in ihrem Zimmer vor sich hingedämmert hatte. Nachdem sie einige Male abgebogen waren, standen sie schließlich vor einem riesengroßen, weiß getünchten Prachtbau, der sich Edificios de Telégrafos y Correos nannte. Alice schickte ihre Nachricht an Tante Grete ab, wobei sie auch die Adresse des Hotel del Jardin angab. Bis eine Antwort eintraf, würde sie Veracruz nicht verlassen können.
Als sie wieder hinaustraten, wies Juan Ramirez den Weg zu einem Kaffeehaus in der Nähe des Zócalo. Es schien eine vornehme Adresse, denn die Kellner in steifen, tadellos sitzenden blütenweißen Hemden blickten ebenso stolz drein wie ihre Gäste. Als Alice einen Milchkaffee bestellte, wurde eine spärlich mit pechschwarzer, stark duftender, dickflüssiger Brühe gefüllte Tasse gebracht. Sie blickte unzufrieden auf. Dann schlug der Kellner einen Gong, so laut,
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