Der Duft des Regenwalds
Eindruck gewinnen, in Europa zu sein.
»Wie Sie meinen«, sagte er schnell. »Ich werde Ihren Entschluss dem doctor mitteilen.«
Dann winkte er den Kellner herbei.
Juans Benehmen blieb von kühler, wenn auch tadelloser Höflichkeit, als er sie zurück zum Hotel begleitete. Alice empfand die Erinnerung an den Ausflug in das Indio-Dorf als quälend, denn allzu groß war der Unterschied zwischen dem fürsorglichen Verehrer, der sie in der glühenden Mittagshitze geküsst hatte, und jenem distanzierten Begleiter, dessen Gedanken sich hinter artiger Konversation verbargen. Ein wenig fühlte sie sich an die Empfänge im Hause ihres Vaters erinnert, als sie dem endlosen Gerede wichtiger Männer hatte lauschen müssen, wobei Tante Gretes Adlerblick in ihren Rücken stach, um jede ihrer Gesten zu kontrollieren. Als sie auf Juans Ausführungen zu den unterschiedlichen Wetterverhältnissen in Frankreich und seiner Heimat nur sehr einsilbig antwortete, gab er das Reden schließlich auf, was sie erleichterte. Schweigend durchquerten sie den Garten, wo sie einander noch vor einer Woche in die Arme gefallen waren. Alice staunte, wie schnell ihre Wahrnehmung dieses Landes sich änderte. Zunächst hatte eine Woge fremder Eindrücke sie überrollt, dann hatte sie betörende Schönheit entdeckt, um sich nun einfach so unerwünscht zu fühlen wie angespültes Strandgut.
Der Portier nickte zum Gruß, doch in seinem Blick lag keine Bewunderung mehr. Alice fragte sich, ob sie sich all dies nur eingebildet hatte und, berauscht von zu viel exotischer Fremdheit, einer völligen Illusion erlegen war. Wenn eine Frau dem Drängen eines Mannes zu schnell nachgab, vergaß er sie ebenso schnell, hatte Tante Grete ihr einst eingebläut. Juan Ramirez war bescheidener in seinen Ansprüchen gewesen als Harry. Sie spürte Bitterkeit in ihrer Kehle und schalt sich innerlich dafür. Sie wollte Malerin sein, nicht Ehefrau oder Geliebte, und damit war sie zufrieden gewesen, solange Patrick lebte. Welch klaffendes Loch sein Tod in ihr Leben gerissen hatte, begann ihr nun, da der erste lähmende Schmerz langsam nachließ, erst wirklich bewusst zu werden.
Im Gang blieben sie beide stehen, denn nun trennten sich ihre Wege in die verschiedenen Zimmer. Alice wollte sich mit einem höflichen Nicken abwenden, doch auf einmal ergriff Juan Ramirez ihre Schultern. Für einen winzigen Augenblick begann die distanzierte Fassade zu bröckeln, seine Lippen wurden schmal, und Falten gruben sich in seine Stirn.
»Alice«, flüsterte er, während er sie an sich zog, »bitte, fahr nach Hause. Du hast deine Malerei und musst dich um das Erbe kümmern. Deinen Bruder kannst du nicht mehr lebendig machen, also bring dich selbst nicht unnötig in Gefahr.«
Ihr Körper verkrampfte sich störrisch. Sie hatte sich von der unverhofften Berührung etwas anderes erwartet als die Ermahnung, dass sie so schnell wie möglich aus seinem Leben verschwinden sollte.
»Danke für den guten Rat, aber meine Entscheidung steht fest«, sagte sie schnell, um dann in ihr Zimmer zu flüchten.
Alice verbrachte den Rest des Tages vor der Leinwand. Sie mischte kräftige, strahlende Farben, malte einen Hintergrund aus Blüten, Palmen und einer Veranda, auf der ein gestreifter Teppich lag. Eine männliche Gestalt sollte diese gefällige Harmonie in Aufruhr versetzen, doch in ihrer Phantasie wollte kein Gesicht entstehen. Patrick war zu sanft, zu europäisch, Juan Ramirez zu geschniegelt und zudem undurchschaubar. Sie dachte an Dr. Scarsdale, an seine verknitterte Blässe. Erstaunlicherweise schien er zu passen, um in eine leuchtend exotische Farbenpracht gequälte, trockene Rationalität eindringen zu lassen. Was hatte ihn nur dazu gebracht, sich ausgerechnet in dieses heiße, wilde Land zu begeben, da er doch, ganz anders als Patrick, eher Pragmatiker als Schwärmer zu sein schien? Nachdenklich ließ Alice den Pinsel sinken. Das Klopfen an der Tür bemerkte sie erst, als es zu einem dringlichen Pochen geworden war.
»Entrez!«, rief sie, da ihr das spanische Wort nicht einfiel. Die Tür wurde ruckartig geöffnet, um ebenjenes Gesicht im Zimmer auftauchen zu lassen. Alice staunte, wie vertrocknet Dr. Scarsdale trotz der heißen Temperaturen schien. Seine Haut wies an den Wangen schuppige Flecken auf. Das hochgeschlossene Hemd, über dem er sogar ein Jackett trug, war völlig frei von Schweißflecken, und sein Haar wirkte so porös, dass sie nicht gewagt hätte, es zu berühren, da es unter ihren
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