Der Duft des Regenwalds
Sprachen übertrug. Ich hatte Glück, weil mir eine englische Ausgabe davon in die Hände fiel. Bisher hatte ich mich kaum mit der Geschichte meines Kontinents vor der Ankunft der Europäer beschäftigt. Nun las ich diese uralte Schöpfungsgeschichte eines ausgelöschten Volkes. Etwas Neues, bisher kaum Erforschtes. Darauf hatte ich lange gewartet.«
Er lehnte sich auf dem Canapé zurück. Alice hatte gebannt gelauscht, verspürte in dem Tonfall seiner Stimme jene Begeisterung, die sie an sich selbst kannte, wenn es um das Malen ging. Dieser Mann lebte für das, was er tat, und schien dadurch plötzlich eine verwandte Seele zu sein.
»Patrick las einen Artikel, den Sie für eine ethnologische Fachzeitschrift verfasst hatten. Es ging um die bisherigen Erforschungen der Maya-Ruinen, die recht dürftig ausgefallen sind. Danach trat er mit Ihnen in Kontakt«, erzählte sie die Geschichte ihrem Wissen gemäß weiter. Dr. Scarsdale nickte.
»Ich war froh, einen Menschen kennenzulernen, der meine Passion teilte. Die Reise nach Mexiko hatte ich bereits geplant und wollte mir zuallererst Palenque ansehen. Die finanziellen Mittel waren allerdings knapp. Glücklicherweise konnte Ihr Bruder ebenfalls seinen Beitrag leisten, sodass wir uns gemeinsam einen Traum erfüllten.«
Alice streckte die Beine aus. Im Wesentlichen war ihr diese Geschichte bereits bekannt, doch sie hatte Patricks Version von Dr. Scarsdale bestätigt hören wollen. An dem, was er sagte, erkannte sie tatsächlich nichts Neues. Patrick hatte das Vermögen der Wegeners dazu verwendet, sich in ein Abenteuer zu stürzen und seine Schwester dabei zu unterstützen, ungestört ihre Bilder zu malen. Plötzlich vermeinte sie, Tante Gretes vorwurfsvolles Gesicht vor sich zu sehen. Mehrere Generationen der Wegeners hatten mit emsigem Fleiß und Sparsamkeit ein Bankhaus aufgebaut, nun wurden die Früchte ihrer Mühen von zwei rebellischen Träumern verschleudert. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder sich ein wenig schämen sollte. Auf jeden Fall würde sie Tante Grete ausbezahlen, wenn sie das Bankhaus verkaufte.
»Sie trafen also vor ungefähr einem Jahr hier in Veracruz zum ersten Mal mit meinem Bruder zusammen und machten sich beide auf den Weg nach Chiapas«, fuhr sie fort. »Patrick schrieb mir regelmäßig. Er bewunderte Ihre Kenntnisse der alten Maya-Kultur und die Präzision, mit der Sie Ausmessungen vornahmen und Scherben zusammenfügten, um alte Gefäße und Figuren zu rekonstruieren. Ich hatte den Eindruck, zwischen Ihnen beiden herrschte bestes Einvernehmen. Aus welchem Grunde wollten Sie mich plötzlich hierherholen?«
Dr. Scarsdale beugte sich vor und legte beide Hände auf die Knie. Das Strahlen war erloschen.
»Patrick begann, sich ungeschickt zu benehmen, das sagte ich bereits. Ich wusste aus seinen Erzählungen, wie viel er auf Ihr Urteil gab. Ich dachte, Sie könnten ihn zur Vernunft bringen. Er gefährdete unser Projekt und auch sich selbst.«
Alice presste beide Mittelfinger an ihre Schläfen, um den Schmerz abzuwehren. Es gelang ihr nicht ganz.
»Ich verstehe es immer noch nicht«, sagte sie. »Patrick schloss Freundschaften mit indianischen Arbeitern, haben Sie mir erzählt. Außerdem hatte er eine indianische Geliebte. Wie sollte er dadurch irgendetwas gefährden?«
»Aber er schloss Freundschaft mit gefährlichen Aufwieglern«, erwiderte Dr. Scarsdale. »Hans Bohremann und einige andere der ansässigen Plantagenbesitzer konnte ich von meinem Vorhaben begeistern. Sie halfen mir, indem sie uns Unterkunft gewährten, Arbeitskräfte zur Verfügung stellten und uns alle Auseinandersetzungen mit den Behörden ersparten. Wir waren ihnen zu Dank verpflichtet. Patrick begann auf einmal, für die Ideen von Leuten zu schwärmen, die erklärte Feinde unserer Förderer waren. Seine Sichtweise der indianischen Bevölkerung war leider von höchst romantischen Vorstellungen getrübt.«
Alice versteifte sich in dem Bemühen, ihren toten Bruder vor derartigen Vorwürfen in Schutz nehmen, doch wollten ihr nicht die richtigen Worte in den Sinn kommen. Patrick hatte in der Tat von der spirituellen, naturverbundenen Lebensart in den alten Indio-Reichen geschwärmt, was ihr angesichts von Menschenopfern ein wenig schönfärberisch vorgekommen war. Überhaupt hatte er dazu geneigt, in Menschen vor allem das Gute zu sehen, was ihrem eigenen misstrauischen Wesen widersprach und worum sie ihn manchmal beneidet hatte.
»Die Nachfahren der alten Maya und Azteken,
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