Der Duft des Regenwalds
Fingern zu Staub zerfallen könnte.
»Miss Wegener«, begann er nach einem Räuspern, »Juan Ramirez hat mir Ihren Entschluss mitgeteilt, den ich natürlich akzeptiere. Wir brechen in drei Tagen nach Tuxtla Gutiérrez auf. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass die einzigen Eisenbahnlinien dieses Landes alle nach Mexiko-Stadt oder in die Vereinigten Staaten führen. Wir werden daher mit einem Pferdewagen reisen. Ich würde Sie bitten, sich bequeme Kleidung zu besorgen, in der Sie den heißen Temperaturen dieses Landes gewachsen sind. Allzu angenehm wird diese Reise nicht, darauf müssen Sie sich einstellen.«
Alice nickte, blickte an sich hinab und versuchte, ihre Erscheinung mit seinen Augen zu betrachten. Sie sah eine junge Frau, die als höhere Tochter aufgewachsen war, blond und zart, da sie leider manchmal das Essen vergaß. Schmale Finger, die im Café Josty mitunter schwere Tabletts umklammert hatten, doch dadurch waren keine Schwielen entstanden. Allein Farbtupfer zeugten davon, dass sie ihre Hände nicht nur im Schoß gefaltet hielt, wie Tante Grete ihr beigebracht hatte. Kurz überkam sie Verunsicherung. Sie würde bald schon eine der wenigen Bastionen der Zivilisation in einem fremden, wilden Land verlassen und wusste nicht, ob sie dem, was sie erwartete, gewachsen war. Dann fiel ihr ein, dass Dr. Scarsdale einem vergeistigten Gelehrten glich, dem der Staub von Bibliotheken anhaftete. Sie straffte die Schultern.
»Gut, ich werde Ihren Rat befolgen. Nun möchte ich Sie noch ein paar Dinge fragen. Setzen wir uns doch für einen Moment.«
Sie sank auf den Stuhl und wies auf ein kleines Canapé in der Zimmerecke. Der Archäologe gehorchte widerstandslos, fuhr sich kurz mit der Hand über die Stirn. Alice erahnte Schuppen, die durch die warme Luft schwebten.
»Sie hatten Briefverkehr mit meinem Bruder, bevor Sie sich persönlich kennenlernten. Ist das richtig?«
Ihr war bewusst, dass sie eine Art Verhör begann, doch sie wollte mehr über Patricks Verhältnis zu dem Amerikaner erfahren. Taktisches Geschick im Umgang mit Männern war niemals ihre Stärke gewesen. Dr. Scarsdales Miene blieb von dieser Direktheit unberührt, schien wie erstarrt in ihrem unnahbaren, vergeistigten Ausdruck. Gefühle musste er wohl wie jeder Mensch haben, aber er hatte gelernt, sie nicht zu zeigen.
»Ich bin Professor für Altgriechisch an der Universität von Columbia«, begann er ohne Zögern. »Zunächst hatte ich jahrelang davon geträumt, eine solche Position zu erreichen, doch als es mir gelungen war, setzte auf einmal Langeweile ein. Ich war es leid, bereits tausendfach übersetzte Texte zu studieren, und stellte mir vor, wie es wäre, uralte Schriften oder Gegenstände in den Händen zu halten, die seit Jahrhunderten kein Mensch mehr berührt hatte. Ich hatte natürlich von dem Deutschen Heinrich Schliemann gehört, der die Stätten einer uralten Kultur ans Licht des Tages gebracht hat. Danach träumte ich davon, mir könnte etwas Ähnliches gelingen.«
Alice, die zunächst etwas irritiert gewesen war, dass er so weit ausholte, um ihre Frage zu beantworten, beobachtete staunend, wie Leben in seine magere Gestalt kam. Er hatte sich aufgerichtet, und das Leuchten seiner Augen, die plötzlich graublau waren, überstrahlte seine allgemeine Farblosigkeit. Für einen Augenblick vermeinte Alice, einen klugen, interessanten Mann vor sich zu sehen.
»Aber warum ausgerechnet Maya-Ruinen? Damit hat Heinrich Schliemann sich nie beschäftigt.«
Er hob mit einem angenehmen Lachen die Hände.
»Nun, ich bin Amerikaner. Ihr Europäer haltet uns für kulturlos. Ich habe lange die Zivilisation der Griechen und Römer bewundert, sie für die Quelle aller menschlichen Weisheit gehalten. Dann überreichte ein alter Freund mir eines Tages die Übersetzung des Popol Vuh, des heiligen Buches der Maya. Es wurde 1702 von einem Dominikanerpriester im heutigen Guatemala gefunden. Eigentlich wäre der Mann Gottes verpflichtet gewesen, das heidnische Teufelswerk zu vernichten, doch da er das Herz eines Gelehrten besaß, vermochte er nichts Derartiges zu tun. Einige Maya-Priester hatten bereits die lateinischen Schriftzeichen gelernt und das Werk aufgezeichnet. Daher war es dem Dominikaner Francisco Ximénez, der inzwischen die Sprache der Maya beherrschte, möglich, eine spanische Übersetzung anzufertigen. Diese lag über hundert Jahre unbeachtet in einer Universitätsbibliothek von Guatemala, bis ein Franzose sie entdeckte und in weitere
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