Der Duft des Regenwalds
der Erbauer großartiger Tempelanlagen, deren Erforschung wir uns widmen wollten, haben den Bezug zu ihrer Kultur verloren.« Dr. Scarsdale setzte zu einer längeren Erklärung an. »Sie haben seit ungefähr vierhundert Jahren wie Sklaven gelebt und eine ähnliche Mentalität entwickelt: unterwürfig und eher stumpfsinnig, wenigstens die Mehrzahl von ihnen. Doch der Hang zur Grausamkeit, der sich bereits bei den blutigen Menschenopfern manifestierte, ist erhalten geblieben. Das bekam Ihr Bruder leider auch zu spüren.«
Alice verschränkte die Arme vor der Brust. Für einen Moment fröstelte sie.
»Ich hoffe, dass ich all Ihre Fragen beantwortet habe«, sagte Dr. Scarsdale und erhob sich. »Ich muss nun los, um unsere Abreise vorzubereiten. Ich werde Hans Bohremann telegrafieren und ihm mitteilen, dass Sie mitkommen wollen. Er wird Ihnen sicher eine Unterkunft auf seiner Hazienda anbieten. Dort haben auch Patrick und ich eine Weile gewohnt.«
Alice nickte erleichtert. Die Aussicht, im Haus eines deutschstämmigen Siedlers unterzukommen, schien auf einmal beruhigend und versprach an dem fernen Ziel einen Ort, der nicht völlig fremd war wie der Rest dieses riesigen, unbekannten Landes.
Einen Tag arbeitete sie noch an ihrem Bild, um die begeistert funkelnden Augen des Archäologen festzuhalten, bevor dieser Eindruck in ihrer Erinnerung verblasste. Dann beschloss sie, sich den Tatsachen zu stellen und für eine mehrwöchige Reise durch wildes Gelände zu packen. Diese Aufgabe brachte unerwartete Probleme mit sich. Sie hatte fast ihr ganzes bisheriges Leben in Berlin verbracht, kannte den Lärm, den Gestank und die Unruhe der Großstadt. Ihr Bedürfnis nach Natur war durch gelegentliche Besuche von Parks zur Genüge befriedigt worden, sodass sie es kaum gewohnt war, keine Häusermauern mehr in unmittelbarer Nähe zu wissen. Sie legte das cremefarbene Sommerkleid schweren Herzens in die Tiefen ihres Koffers, denn sein zarter Stoff würde in der Wildnis vermutlich schnell zerreißen. Auch andere geliebte Kleidungsstücke wurden zum Zwecke der Schonung als Reisekleidung aussortiert. Übrig blieben schließlich der blaue Rock und noch ein brauner aus dickerem Leinenstoff, in dem sie vielleicht schwitzen würde, der aber dem rauen Holzboden im Wagen genug Widerstand bot, um heil zu bleiben. Hinzu kamen drei Rüschenblusen, alle in strahlendem Weiß. Sie würde sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit waschen, beschloss sie, denn ihr graute davor, eine nach Schweiß stinkende Reisende zu sein. Vermutlich hatten Dr. Scarsdale und Juan Ramirez recht: Sie war völlig verrückt, sich auf ein solches Abenteuer einzulassen. Ratlos klappte sie den Koffer zu, kletterte auf das Bett und rollte sich für einen Moment zusammen. Noch konnte sie absagen. Die Herren wären vermutlich sehr erleichtert, sie als lästige Begleiterin losgeworden zu sein. Sie sehnte sich nach der übersichtlichen Enge einer Schiffskabine, dem Weg über den Ozean Richtung Heimat, wo zahlreiche Aufgaben auf sie warteten. War es Trotz, der sie hierbleiben ließ? Ein sinnloses Pflichtgefühl gegenüber Patrick, an dessen Tod sie sich eine Mitschuld gab? Oder gar der Wunsch, Juan Ramirez nicht zu verlassen, weil sein Verhalten ihr gegenüber sich vielleicht wieder ändern könnte?
Sie drehte sich auf den Rücken und starrte die honigfarben gestrichene Zimmerdecke an. Das Moskitonetz wehte im leichten Wind des anbrechenden Abends wie ein zarter Damenschleier. Sie dachte über ihre Selbstvorwürfe nach, verwarf den Trotz und auch ihre Hoffnungen bezüglich Juan Ramirez. Nur was Patrick betraf, musste sie sich eingestehen, dass sie tatsächlich ihr Gewissen beruhigen wollte, indem sie sich ebenfalls in Gefahr begab. Aus diesem Grund war der Schritt notwendig.
Mit neu erwachender Energie richtete sie sich auf. Ihr kamen die blütenreinen Batisthemden und Seidenwesten von Juan Ramirez in den Sinn. Wenn ein derart eitler Mann durch Chiapas reisen konnte, dann würde es auch einer Blondine in Rüschenbluse gelingen.
Der Karren war nicht ganz so primitiv, wie Alice befürchtet hatte. Es gab sogar zwei davon, einen, auf den das Gepäck geladen wurde, wobei ihres den meisten Raum einnahm. Der zweite Wagen war mit gepolsterten Sitzbänken ausgestattet und mit einem Verdeck versehen, sodass er fast einer europäischen Kutsche glich, nur hingen an seinen Seiten die üblichen bunt gestreiften Decken herab, von farbenfrohen Fransen verziert. Vor jedem Gefährt stand ein
Weitere Kostenlose Bücher