Der Duft des Regenwalds
kleines, zotteliges Pony, dessen stämmiger Körper und gutmütiger Blick Alice ein wenig beruhigten. Diese Tiere schienen längere Strecken durch unebenes Gelände zu verkraften, sodass sie ihnen gern ihr Schicksal anvertraute. Die Kutscher waren braun gebrannte Mexikaner, Vater und Sohn, wie es bereits aufgrund des Altersunterschiedes deutlich wurde, und zudem hatten sie beide ähnlich breite Nasen über den kräftig wuchernden Schnurrbärten. Sie nickten kurz, um die Reisenden zu begrüßen, doch ihre Blicke blieben an Alice hängen, die sich verärgert abwandte. Es war an der Zeit, dass die Abfahrt begann, denn dann mussten die neugierigen Kerle sich auf die Straße konzentrieren, anstatt ihren weiblichen Fahrgast anzustarren.
Zu ihrer Erleichterung wurde eine lederne Plane über das Gepäck gezogen, sodass ihr zurechtgeschnittenes Leinwandpapier, die fertigen Bilder, die Farbtuben, Dosen und Pinsel einigermaßen vor möglichem Unwetter geschützt waren. Irgendwann musste es auch in diesem Land einmal regnen, denn es bestand keineswegs aus Wüste. In dem Reisewagen saß sie Juan Ramirez und Dr. Scarsdale gegenüber. Die Vorstellung, dass sie es bis zu zwei Wochen auf derart engem Raum miteinander aushalten müssten, löste eine unangenehme Beklemmung aus. Sie strich den blauen Rock glatt und richtete sich auf.
»Nun, jetzt geht es los«, meinte sie auf Englisch mit einem gekünstelten Lächeln. Juan Ramirez musterte sie eingehend von Kopf bis Fuß. Dann griff er in einen Beutel, den er bei sich trug.
»Hier, das wird Sie besser vor der Sonne schützen als Ihr geblümter Strohhut«, meinte er und hielt ihr ein breitkrempiges Exemplar entgegen, das sie bisher bei mexikanischen Männern gesehen hatte.
»Sie selbst tragen so etwas nicht«, widersprach Alice und erntete ein nachlässiges Lächeln.
»Ich bin die Sonne gewöhnt. Sie nicht. Bitte nehmen Sie den Hut, sonst werden Sie noch krank.«
Alice gehorchte widerwillig. Sie würde dieses Monstrum nicht freiwillig aufsetzen, beschloss sie, doch eine Ablehnung wäre allzu unhöflich gewesen.
Sie durchquerten die Stadt, vorbei an hohen Steingebäuden, weiß, rosa oder blau gestrichenen Häusern und Hütten mit Strohdächern, die allmählich immer seltener wurden. Eselskarren kamen ihnen entgegen, und manchmal war es schwierig, ihnen auf der engen Straße auszuweichen. Kleinwüchsige Indios schleppten Lasten auf ihren Rücken, die fast so groß waren wie sie selbst, doch sie schritten kraftvoll aus. Wieder bewunderte Alice die farbenfrohe Kleidung. Die Frauen trugen schlichte graue Hüte, die in Europa wohl eher Teil von Herrenkleidung gewesen wären. Ihre Kinder trugen sie in Rucksäcken ähnlichen Tüchern auf dem Rücken, sodass sie beide Hände freihatten, um den vorbeiziehenden Reisenden Früchte, Tortillas, Tongeschirr, Schmuck aus bunten Glasperlen und bestickte Bänder anzubieten. Alice erwarb eine weitere Kette mit passenden Ohrringen, wobei sie diesmal den geforderten Preis zahlte.
»Man wird Sie ausnehmen, wenn Sie so weitermachen«, kommentierte Juan Ramirez spöttisch. Sie warf ihm einen wütenden Blick zu.
»Diese Leute sind entsetzlich arm. Es ist mir unangenehm, ihre Preise herunterzuhandeln.«
Er lächelte, als hätte er den scharfen Tonfall nicht wahrgenommen.
»Ihr mitfühlendes Herz in allen Ehren, aber wenn Sie allen Armen dieser Welt helfen wollen, dann sind Sie selbst bald arm.«
Alice wandte verärgert das Gesicht ab, denn ihr fiel im Moment keine passende Antwort ein, und zudem wollte sie die Reise nicht gleich mit einem Streit beginnen. Streng genommen hatte Juan Ramirez nicht einmal unrecht, ihre finanziellen Reserven waren beschränkt, sie wollte nicht weiterhin auf die Großzügigkeit von Dr. Scarsdale angewiesen sein und wusste nicht, wann sie Patricks Erbe beanspruchen könnte. Zunächst einmal wäre es wohl vernünftig, sich bei Einkäufen zurückzuhalten.
Sie hatten die letzten Gegenden, in die die Stadt Veracruz ihre Finger ausstreckte, inzwischen hinter sich gelassen und fuhren in der prallen Sonne zwischen Feldern hindurch, auf denen etwas angebaut wurde, das entfernt an Schilf erinnerte.
»Zuckerrohr«, erklärte Dr. Scarsdale, der ihrem Blick gefolgt war. »Es wird hier in der Gegend am häufigsten angepflanzt. In Chiapas hingegen bevorzugt man Kaffee und Kakao. Wir haben Glück, dass wir den größten Teil der Strecke über bereits gerodetes Flachland fahren. Erst kurz vor unserem Ziel werden wir das Hochland von
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