Der Duft des Regenwalds
Blut«, mischte sich Juan Ramirez ins Gespräch. »Auch die Ladinos, die spanischstämmigen Mexikaner wie meine Schwester und ich. Wir stellen hier die Mehrheit der Bevölkerung dar und sind keine Mörder.«
Alice schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln, denn er machte den Eindruck, zu einem längeren Vortrag ansetzen zu wollen, den sie nicht wirklich hören wollte. Ihr Rücken schmerzte bereits von dem ständigen Holpern des Wagens, die Rüschenbluse war schweißdurchtränkt, und sie sehnte sich nach einer Gelegenheit, frisches Wasser über ihren Körper laufen zu lassen. Es würde allerdings keinen guten Eindruck machen, wenn sie schon wenige Stunden nach der Abreise zu klagen begann.
»Ich bin nicht davon ausgegangen, dass alle Leute dieses Landes Mörder sind«, beruhigte sie Juan Ramirez. »Ich versuche nur zu begreifen, was meinem Bruder widerfahren ist.«
Er nickte. Zum ersten Mal war sein makelloses Gesicht von Schweiß bedeckt. Er trug ein schlichteres Hemd als in Veracruz und Hosen aus robustem Leinen. Ohne die Fassade des kultivierten Dandys sah er weitaus mexikanischer aus, dachte Alice. Sie konnte sich ihn erstmals als Kind einfacher Leute mit einem Stand am Hafen vorstellen. Erstaunlicherweise wurde er ihr dadurch wieder sympathisch.
»Dieser Andrés Uk’um wollte eine Revolution.« Dr. Scarsdale übernahm die Rolle des Dozenten. »Wie wir aus der europäischen Geschichte wissen, Miss Wegener, laufen Revolutionen nicht ohne Blutvergießen ab.«
»Ja«, sagte Alice, »das ist mir bewusst.«
Sie hatte das Gefühl, wie ein Schuldmädchen belehrt worden zu sein. Benahmen Männer sich allgemein überheblich, oder war sie nur besonders empfindlich?
Sie fand keine Antwort auf die Frage, denn die Karren rollten zu einer Behausung, vor der sie zum Stillstand kamen.
Es war ein einstöckiges Gebäude, um das sich zahlreiche Ställe und Lagerräume gruppierten. Ein unangenehmer, aber nicht völlig unbekannter Geruch stieg Alice in die Nase. Sie brauchte eine Weile, bis ihr die Ferienreise in die Alpen wieder einfiel, die sie als Halbwüchsige mit ihrer Familie unternommen hatte. Das behäbige Muhen, mit dem sie begrüßt wurden, machte ihr klar, dass es nach Kuhfladen roch, obwohl im Augenblick kein Rind zu sehen war.
Ein paar Indios kamen herbeigelaufen, starrten die Gäste neugierig an und holten nach einer kurzen Unterhaltung mit Dr. Scarsdale schließlich den Hausherrn, der ebenso dunkelhäutig und klein war. Seine Frau, die in fleckiger Schürze und mit bis zu den Ellbogen hochgekrempelten Blusenärmeln kurz darauf ebenfalls heraustrat, überragte ihn um einen halben Kopf. Ihre hellbraunen Locken, die zerzaust über ihre Schultern fielen, ließen sie europäisch aussehen. Aus dem braun gebrannten Gesicht blinzelten graublaue Augen, abschätzend und etwas misstrauisch angesichts des unerwarteten Besuchs. Juan Ramirez schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln und begann, auf Spanisch zu sprechen, doch der mürrische Blick der Hausherrin machte klar, dass sie keinerlei Schwäche für schöne Männer empfand. Der Hausherr hingegen mischte sich lautstark in das Gespräch, seine Arbeiter stimmten sogleich ein, und schließlich fürchtete Alice, von dem allgemeinen Gezeter Kopfschmerzen zu bekommen. Dann sah sie, wie die Haustür erneut geöffnet wurde.
»Wir bekommen hier ein Mittagessen und können uns ein bisschen ausruhen«, erklärte Juan Ramirez die Lage. Dr. Scarsdale nickte. Alice stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Vielleicht würde sie sich hier irgendwo kurz waschen können.
Das allgemeine Geplapper wollte kein Ende finden, als sie in einen Raum geführt wurden, wo auf einem langen Tisch das Essen bereitstand. Alice nahm an der Seite von Juan Ramirez Platz, denn die Hausherrin hatte Dr. Scarsdale nach einer kurzen Unterhaltung zu ihrem Favoriten auserkoren und wies ihn auf einen freien Stuhl an ihrer Seite. Die Indios saßen etwas weiter unten am Tisch, ebenso wie die zwei Kutscher. Alice spürte ein paar neugierige Blicke auf sich ruhen, nachdem sie den Hut abgenommen hatte, doch glücklicherweise beanspruchten die dampfenden Töpfe bald mehr Aufmerksamkeit als ihr Blondhaar. Eine Mischung aus Bohnen, Kartoffeln und Hackfleisch schwamm darin. Alice’ Magen knurrte sehnsüchtig. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so hungrig gewesen zu sein, was zur Folge hatte, dass es ihr ungewohnte Freude bereitete, ihren Teller zu füllen und einen Löffel voll mit der dampfenden Mischung zum Mund
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