Der Duft des Regenwalds
schossen aufgeschreckt in die Lüfte, sobald die Karren sich näherten. Alice dachte an Tante Gretes roten Papagei, dessen Leben sich innerhalb eines engen, runden Gefängnisses aus sorgsam polierten Metallstäben abgespielt hatte, bis er eines Tages einfach von der Stange gefallen war, um endlich zu sterben. Damals hatte sie seinen Tod als erleichternd empfunden, da ein wenig Ruhe eingekehrt war. Sein Krächzen hatte stets die Strafpredigten der Tante begleitet und Alice Kopfschmerzen verursacht. Nun begriff sie plötzlich, welches Leben diesem Vogel vorenthalten worden war, und sie empfand einen zusätzlichen Groll gegen ihre Verwandte, die im Übrigen noch keine Antwort auf ihr Telegramm geschickt hatte. Hatte sie alle Welt einsperren wollen wie diesen Papagei, da sie alles hasste, das sich ihrer Kontrolle entzog?
Hier kreischten die Vögel ebenfalls, vermutlich inspiriert von den trällernden Kutschern. Doña Bernadetta hatte die Lust am Gesang in ihnen geweckt, und nun schmetterten sie unermüdlich Lieder über schwarze Tauben und klagende Kindesmörderinnen. Alice gewöhnte sich an die Misstöne, fand sie sogar ein wenig reizvoll.
Gegen Abend rollten die Karren in eine weitere Ortschaft, wo sie sogleich von neugierigen Anwohnern begrüßt und zu einer Art Herberge gelenkt wurden. Es war ein einstöckiges, breit angelegtes Gebäude mit zartrosa Wänden. In einem kleinen Innenhof sprangen Hunde und Affen herum, während die Katzen auf den Bänken gelangweilt die Köpfe hoben, als sie der Karren ansichtig wurden. Alice fand die Tiere hübsch und kletterte begeistert vom Wagen herab. Bisher hatte sie Affen nur im Zoo bewundern können, nun wurde sie von ihnen mit kreisrunden, dunklen Augen angestarrt, in denen sich ein beängstigend menschenähnliches Begriffsvermögen zeigte. Sie lächelte eines dieser Tiere freundlich an und trat ihm ein paar Schritte entgegen. Irgendwann würde es sicher die Flucht ergreifen, dachte sie, doch als der Affe sich in Bewegung setzte, kam er in ihre Richtung. Mit ein paar Sätzen hockte er vor ihr und streckte seinen Arm aus, um nach dem Saum ihres Rockes zu greifen. Plötzlich sah Alice kräftige, gelbe Zähne und scharfe Krallen, eine merkwürdige Mischung aus tierischer Wildheit und wachem Verstand in einem Gesicht, das dem eines Menschen ähnelte. Sie wich mit einem Aufschrei vor dieser unheimlichen Kreatur zurück. Der Affe trollte sich daraufhin missmutig wie ein abgewiesener Verehrer. In ihrem Rücken plapperte der junge Ernesto, und gleich darauf begann der ältere Ernesto schallend zu lachen.
»Sie meinen, dass Sie dem Affen gefielen«, sagte Juan Ramirez mit spöttischem Funkeln in seinen Augen. Alice straffte trotzig die Schultern. Männer konnten unausstehlich sein.
»Hat der Affe Sie gekratzt?«, fragte Dr. Scarsdale. »Dann sollte die Wunde gleich desinfiziert werden.«
»Nein, mir ist nichts passiert«, versicherte Alice, dankbar dafür, außer gesangsbegeisterten Kutschern mit Sinn für Humor auch einen sachlich denkenden Gelehrten bei sich zu wissen.
Dem Gästehaus mangelte es an Gästen, denn außer Alice und ihren Reisegefährten hielt sich dort nur ein altes mexikanisches Ehepaar auf, das seine in Yucatán verheiratete Tochter besuchen wollte. Der Besitzer des Hauses war ein Amerikaner namens Frederic Palmer, hochgewachsen, blass und strahlend blauäugig. Er lebte mit Elaine, einer kleinen, runden, weichen Frau, zusammen, deren Vater angeblich Franzose gewesen war, was sich durch zwei Ahnenporträts an den Wänden des Eingangsraumes nachweisen ließ. Elaine selbst hatte deutlich indianische Gesichtszüge, doch dieser Teil ihrer Herkunft war ohne großen Einfluss auf die Einrichtung des Hauses geblieben. Sie trug allerdings jene farbenfrohe Kleidung, die Alice an Indio-Frauen bewundert hatte, obwohl bei ihr alles sauberer und frischer aussah. Das Haar war zu zwei Zöpfen geflochten, in denen bunte Bänder steckten. Insgesamt schien sie Alice die reizvollste weibliche Erscheinung seit ihrer Ankunft in Mexiko. Sie begann, sich nach Leinwand und Pinsel zu sehnen, während Elaine sie in ein helles, gemütlich eingerichtetes Zimmer führte, wo drei Betten standen.
»Hier schlafen die weiblichen Gäste«, sagte sie auf Französisch. »Das Bett am Fenster hat bereits die alte Señora belegt, Sie können sich aussuchen, welches Sie wollen.«
Alice überlegte nicht lange, denn beide Betten standen in der dunkleren Hälfte des Raumes, und es machte kaum einen
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