Der Duft des Regenwalds
abreiste, da war sie verschwunden. Ebenso wie Andrés.«
»Was heißt verschwunden? Und warum? Sie wird doch nicht etwa auch verdächtigt?«
Ihre Stimme war laut geworden. Sie spürte ein paar Blicke auf sich ruhen und lächelte beruhigend.
»Nein, verdächtigt wird sie meines Wissens nicht«, sagte Juan Ramirez deutlich leiser. »Aber Indios haben ihre eigene Lebensart, vor allem in Chiapas. Da sind sie noch recht wild. Das Mädchen ist sozusagen untergetaucht, irgendwo im Dschungel. Vielleicht haben ihre eigenen Leute sie auch verschleppt, da ihnen ihre Verbindung mit einem Weißen nicht gefiel. Ich bezweifle, dass die junge Frau jemals wieder auftaucht.«
Alice senkte den Kopf. Sie verstand nicht, warum auf einmal jene Schwermut sie erfasste, die sie aus den Liedern herausgehört hatte. Sie wäre gern der Frau begegnet, die Patricks letzte und wohl auch erste Liebe gewesen war, ganz gleich, wie irrsinnig seine Leidenschaft auch gewesen sein mochte.
Die Hausherrin riss sie aus diesen Überlegungen. Sie lief hinaus, um dann mit einer Holzkiste zurückzukommen, die sie stolz vor Dr. Scarsdale abstellte. Der Archäologe hatte gerade seine Brille geputzt, nun setzte er sie wieder auf, um den Inhalt der Kiste zu inspizieren. Sein Gesicht bekam schlagartig Farbe, als sei ihm plötzlich Blut in die Wangen geschossen. Die dicken Brillengläser vergrößerten seine leuchtenden Augen, als er kleine Figuren aus Stein und Ton in die Höhe hielt. Es waren hockende, stämmige Gestalten, teilweise mit breiten Segelohren, die Alice häufig auf Patricks Zeichnungen gesehen hatte.
»Hat die Frau das selbst gemacht?«, flüsterte sie Juan Ramirez ratlos zu. Er schüttelte den Kopf.
»Nein, diese Figuren waren hier früher leicht zu finden, wenn man ein bisschen grub und sich umsah. Es sind uralte indianische Arbeiten. Doña Bernadetta, so heißt unsere Gastgeberin, hat bereits eine Sammlung von ihrem Vater geerbt, der aus Portugal einwanderte. Sie hat in den letzten Jahren fleißig weitergesucht, auch in der Nachbarschaft. Vor sieben Jahren fand in Amerika eine Kolumbus-Ausstellung statt. Da hat unsere Regierung uns aufgefordert, solche Fundstücke abzuliefern. Aber Doña Bernadetta war schlau. Sie behielt ihre Schätze, weil sie wusste, dass irgendwann jemand kommen würde, der bereit wäre, dafür gutes Geld zu zahlen.«
Tatsächlich hatte Dr. Scarsdale schon seinen Geldbeutel herausgezogen. Nach einer kurzen Verhandlung, bei der die Hausherrin entschieden ihre Hände in die Hüften stemmte, wanderten ein paar Dollarscheine über den Tisch. Doña Bernadetta warf ihrem kleinen Ehemann einen triumphierenden Blick zu, während sie ihren Gewinn einsteckte.
»Am Ende hat sie die meisten davon doch selbst gemacht«, flüsterte Alice Juan Ramirez spöttisch zu. Allmählich begann sie, ihm sein wortloses Beenden ihrer kurzen Romanze zu verzeihen, denn die gemeinsame Reise führte sie auf eine andere, entspanntere Art zusammen.
»Nein, das wäre zu viel Aufwand gewesen. Bis vor einigen Jahren galten solche Figuren als völlig wertlos.«
Er neigte sich ihr zu.
»Als ich in Veracruz aufwuchs, da hatte meine Mutter eine solche Steinfigur, eine ziemlich große sogar, in ihrer Küche stehen. Sie fand sie hübsch, und deshalb schleifte sie stets ihre Messer daran. Ich wage bis heute nicht, dies dem doctor zu erzählen. Ich glaube, er bekäme auf der Stelle einen Ohnmachtsanfall.«
Alice musste kichern, obwohl sie wusste, dass auch Patrick über einen derartigen Missbrauch eines Kunstwerks entsetzt gewesen wäre.
»Was wurde aus der Figur?«, fragte sie. »Sie war vermutlich sehr wertvoll.«
Juan Ramirez ließ seine weißen Zähne aufblitzen. »Meine Mutter starb, und die Figur verschwand. Vermutlich warf mein Vater sie weg. Ich hatte damals ganz andere Sorgen. Nun sind meine Eltern beide tot. Wir waren bettelarm, hatten einen Schatz in der Küche stehen und wussten nichts davon. Das Leben kann manchmal verrückt sein.«
Alice erwiderte sein Lächeln. Es mochte an dem Tequila liegen oder an der fröhlichen, geselligen Atmosphäre in diesem Bauernhaus, dass sie sich im Mexiko wieder wohlzufühlen begann.
Bald darauf ging die Reise weiter. Sie zogen an Zuckerrohrfeldern, Viehweiden mit braunen Rindern, in deren Nähe stets große, weiße Vögel saßen, und kleinen Ortschaften vorbei. Dazwischen schob sich immer wieder ein letzter Rest an unberührter Landschaft aus Palmen und Sträuchern. Vögel mit schillernd buntem Gefieder
Weitere Kostenlose Bücher