Der Duft des Regenwalds
noch von niemandem auf derart selbstverständliche Art aufgeheitert worden. Kurz darauf erschien der Junge mit einem emaillierten Becken, das mit köstlich kühlem, frischem Wasser gefüllt war. Alice konnte es kaum erwarten, die verschwitzte Bluse abzustreifen. Bald schon perlte das Nass über ihre Haut. Sie staunte, wie viel Freude die Möglichkeit, sich gründlich zu waschen, ihr bereitete, rubbelte sich mit einem Handtuch trocken und öffnete den Koffer. Sie würde auch ihr Unterkleid wechseln, beschloss sie, obwohl sie nicht genügend von solchen Wäschestücken besaß, um täglich ein neues anzuziehen. Vielleicht würde es kühler werden, sobald sie sich den Bergen näherten. Gerade hatte sie nach einer Bluse gegriffen, als ihr Blick auf bunte Stoffe aus schlichtem, etwas grobem Leinen fiel. Die während ihres Ausflugs erworbene Indio-Kleidung hatte sie nach der Rückkehr ins Hotel einfach in den Koffer geworfen, betäubt von der Nachricht über Patricks Tod, und seitdem vergessen. Nun sah sie die kleine, energische Frau mit rauen Händen und Halbmonden unter den Fingernägeln wieder vor sich, mit der Juan Ramirez über den Preis gefeilscht hatte. Spontan zog sie den Wickelrock und das Oberteil heraus, befühlte den Stoff und bewunderte die leuchtenden Farben der Stickereien. Der Rock verbarg ihre Pantalons, als sie ihn um ihre Hüften schlang. Dann verschwand auch ihr blütenweißes Unterkleid unter der Farbenpracht der indianischen Bluse. Sie drehte sich um die eigene Achse, denn ihr war tatsächlich wohler in dieser Kleidung, als könne ihr Körper unter den einheimischen Stoffen leichter atmen. Dann kämmte sie rasch ihr Haar und setzte einen braunen Samtreif auf, bevor sie wieder in ihre Schuhe schlüpfte. In Veracruz, wo viele Europäer und wohlhabende Mexikaner unterwegs gewesen waren, hätte sie sich als hellhäutige, blonde Frau in einer solchen Aufmachung unwohl gefühlt, doch hier in dieser kleinen Ortschaft fand sie es unwichtig, was man von ihr dachte. Mit knurrendem Magen stieg sie die Stufen hinab.
Ihre männlichen Reisegenossen saßen bereits am Tisch, und Dr. Scarsdale unterhielt sich angeregt mit Frederick Palmer. Er hatte die kleinen Figuren Doña Bernadettas auf dem Tisch ausgebreitet.
»Es ist entsetzlich, wie viele wertvolle Kunstgegenstände in diesem Land immer noch missachtet, weggeworfen und allmählich zerstört werden«, sagte er und schenkte Alice nur einen flüchtigen Blick, als sie eintrat. »Kürzlich besuchte ich in Chiapas die Ruinen der Tonina, eines Volks, das häufig gegen die Herrscher von Palenque Krieg führte. John Lloyd Stephens hat 1839 als einer der ersten Forscher die Überreste des Palastes gesehen und von den Wandmalereien geschwärmt. Nun sind sie alle abgebröckelt, Schlingpflanzen ziehen sich durch die Gebäude, und wenn nicht bald etwas geschieht, werden spätere Generationen nur noch ein paar im Dschungel herumliegende Steine zu sehen bekommen.«
Frederick Palmer nickte eher gleichmütig, als sei dies ein vielleicht unerfreulicher, aber nicht wirklich wichtiger Umstand. Alice warf Juan Ramirez, der ebenfalls gewaschen und frisch eingekleidet war, einen verschwörerischen Blick zu, den er mit leichtem Grinsen erwiderte. Es wäre wirklich keine gute Idee gewesen, Dr. Scarsdale etwas über den ungewöhnlichen Schleifstein der alten Señora Ramirez zu erzählen.
Sie fragte sich, was Patrick zu der Geschichte gesagt hätte, ob seine Liebe zu den altindianischen Kunstwerken oder sein Sinn für Humor stärker gewesen wären. Schmerzhaft wurde ihr bewusst, dass sie niemals die Gelegenheit haben würde, ihm davon zu berichten.
»Diese Kleidung sieht wunderschön an Ihnen aus«, sagte Elaine Palmer, und Alice war dankbar für die Ablenkung. »Mein Vater hätte Sie auf jeden Fall malen wollen, Mademoiselle Wegener.«
Alice lächelte geschmeichelt. Sie fühlte Juan Ramirez’ Blick auf sich ruhen, konnte ihn aber nicht deuten. Vielleicht fand er ihre Verkleidung albern, doch diese Vorstellung störte sie nicht.
»Ich werde Ihnen später noch ein paar indianische Handarbeiten zeigen, wenn Sie wollen«, bot Elaine sich an. »Meine Nichten und Cousinen können wunderschöne Stoffe weben.«
Alice nickte höflich.
»Ich würde auch gern die Bilder Ihres Vaters sehen, falls Sie noch einige haben.«
»Natürlich, sie hat viele davon«, mischte sich Frederick Palmer mit einem Französisch, das von texanischem Akzent verflacht und in die Breite gezogen wurde, ins
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