Der Duft des Regenwalds
dem Herrenhaus auf ihre Sänfte. Emsig herumlaufende indianische Arbeiter schnallten die Gobelintasche wieder auf ein Maultier, ließen Alice jedoch stehen, obwohl sie sich selbst wie ein Teil des Gepäcks vorkam, das im Auftrag des Kaffeebarons zu transportieren war. Der Patron stand indessen im vollen Bewusstsein seiner Wichtigkeit vor dem Herrenhaus und erteilte noch einige Anweisungen an Alfons Kernhagen, der aufmerksam lauschte. Isolde schien über den bevorstehenden Aufbruch des Kaffeebarons erleichtert zu sein. Sie gehörte zu den Menschen dieser Welt, die ihre Gefühle schlecht verbergen konnten. Alice ahnte, dass es ihr durchaus gefiel, hier die Hausherrin zu spielen, da Rosario wohl selten auf die Plantage kam.
Als endlich die Sänfte herbeigetragen wurde, kam Bewegung in die Gruppe der versammelten Indios. Alice vernahm schrilles Geschrei, das von einer Frau stammen musste, und sah sich ratlos um. Außer ihr war Isolde das einzige weibliche Wesen hier, und die schwieg. Das Schreien wurde lauter, und kräftige Ellbogen stießen ein paar der Arbeiter zur Seite, um einer Indio-Frau in schwarzem Rock und bunt bestickter Bluse Platz zu verschaffen. Alice starrte die Frau ratlos an, die dicht vor ihr stehen blieb und dabei weiter unverständliche Worte rief. Es dauerte eine Weile, bis sie das glatte, mondförmige Gesicht erkannte, denn sie hatte es in dem Dorf nur sehr kurz gesehen. Der eindringliche Blick der Augen war ihr allerdings sogleich vertraut.
»Das ist eine Verwandte von Andrés’ Vater«, sagte sie zu Alfons Kernhagen. »Was ruft sie die ganze Zeit?«
Der Verwalter holte Luft, doch ein Blick von Hans Bohremann brachte ihn zum Schweigen. Der Kaffeebaron hob die Hand. Sofort wurde die Frau von einigen der umstehenden Männer gepackt und fortgezerrt. Alice öffnete den Mund, um zu protestieren, doch ihr wurde klar, dass niemand ihren Wünschen Gehör schenken würde. Mit Bedauern sah sie der Indianerin nach, als diese entfernt wurde.
»So, jetzt können wir endlich aufbrechen«, verkündete Hans Bohremann. Alice ballte ihre Hände zu Fäusten.
»Wer war das? Und was hat sie gesagt?«, rief sie auf Spanisch in die Runde der versammelten Männer. Niemand antwortete. Man wich ihrem Blick aus.
»Ich habe ein Recht, es zu erfahren. Sonst habe ich das Gefühl, man will mir etwas verheimlichen!«, beharrte Alice, an Alfons Kernhagen gewandt, da sie wusste, dass er die Sprache der Indianer beherrschte. Sie vernahm das ungeduldige Schnauben von Isolde, die wohl heimlich hoffte, dass die hübsche, lästige Fremde zur Not mit Gewalt in ihre Sänfte gezerrt wurde und endlich verschwand.
»Das war die Mutter von Andrés Uk’um«, sagte Hans Bohremann plötzlich auf Deutsch. »Und ich will gar nicht wissen, woher sie Sie kannte. Sie sagte, ihr Sohn sei ein guter Junge, der niemals jemanden töten würde. Aber so denken die meisten Mütter über ihren Nachwuchs. Es hat nichts zu bedeuten.«
Er hob die Hand zum Aufbruch. Niemand zwang Alice in die Sänfte, und kurz erwog sie, einfach zu bleiben und nach der Mutter eines unbekannten Mannes zu suchen, der vielleicht Patrick umgebracht hatte, vielleicht auch nicht. Doch sie wusste nicht, was sie von dieser Frau erfahren könnte, selbst wenn sie beide in der Lage wären, sich miteinander zu unterhalten, wovon nicht auszugehen war. Sollte sie händeringend nach einem Übersetzer suchen, nur um sich am Ende anzuhören, welch guter, wohlerzogener Junge Andrés Uk’um gewesen war, als er noch an Mutters Rockzipfel hing? Die Vernunft, gemischt mit Angst, ohne Hans Bohremanns Schutz in dieser fremden Welt zurückzubleiben, gewann die Oberhand, und Alice kletterte wieder in ihre Sänfte.
Mariana begrüßte sie mit freudigem Gebell, leckte ihr das Gesicht ab und verzierte den bereits reichlich zerknitterten blauen Rock noch mit ein paar bräunlichen Abdrücken ihrer Pfoten. Alice staunte, als ihr Tränen in die Augen schossen, denn sie war es nicht gewöhnt, bei einer Heimkehr derart stürmisch begrüßt zu werden. Die Vorstellung, sich bald schon von Mariana trennen zu müssen, versetzte ihr einen Stich. Vielleicht konnte Hans Bohremann für sie herausfinden, wie schwierig es wäre, einen Hund auf einem Schiff nach Europa mitzunehmen.
Sie warf die Gobelintasche aufs Bett und schloss Mariana in die Arme, vergrub ihr Gesicht in dem braunen Strubbelfell. Als sie mit ihren Händen über die dünnen Beine fuhr, winselte Mariana leise. Alice zuckte zurück. Tatsächlich
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