Der Duft des Regenwalds
hatte erleben müssen, berührt sein, doch eine Frau erkannte sofort, wenn eine andere Frau sich durch eigenes Verschulden in Schwierigkeiten brachte.
»Ich bin erschöpft.« Alice versuchte, den Rückzug anzutreten. »Wenn Sie mich entschuldigen, dann würde ich gern in mein Zimmer gehen.«
Niemand widersprach. Hans Bohremann fragte lediglich, ob sie eine Verhaftung der zwei Indios, von denen sie gefangen gehalten worden war, wünschte. Alice verneinte nach kurzem Überlegen, denn diese Maßnahme schien ihr überflüssig. Die beiden hatten ihr nichts getan, und viel erfahren würde sie von ihnen sicher nicht. Rosario versprach ihr, dass sie noch eine Mahlzeit erhalten würde. Alice fühlte sich außerstande, einen Bissen hinunterzubringen, doch sie wollte das Angebot von Frau Bohremann nicht zurückweisen.
Das kleine Hotelzimmer wirkte plötzlich wie ein irdisches Paradies, sauber, vertraut und friedlich. Alice erhielt bald schon einen Zuber voll warmem Wasser, streifte erleichtert ihre verschwitzte, schmutzige Kleidung ab und stieg hinein. Die Wärme half, die Verkrampfung ihrer Muskeln zu lösen. Allmählich vermochte sie ruhig zu atmen, doch ihr steckte die Erinnerung an ihre Hilflosigkeit noch in allen Gliedern. Sie zweifelte, dass sie in dieser Nacht den ersehnten Schlaf finden würde, und die Sehnsucht nach ihrer Heimat wurde immer größer. Mexiko hatte seine farbenprächtige Anziehungskraft verloren, schien mörderisch, gefährlich und undurchschaubar.
Als sie sich in ihren Morgenmantel gehüllt hatte, klopfte es an der Tür. Das versprochene Abendessen, dachte Alice. Auf einmal verspürte sie Appetit und öffnete erwartungsvoll. Vor ihr stand ein tadellos gekleideter Juan Ramirez mit einer Flasche in der Hand.
»Bitte entschuldigen Sie die Störung. Sie sagten, Sie wollten noch etwas trinken, damit Sie besser schlafen können.«
Er hielt ihr die Flasche entgegen. Alice ergriff sie und lächelte verlegen. Sein Auftauchen bereitete ihr unerwartete Freude, denn sie fürchtete sich plötzlich vor dem Alleinsein. In ihrem gegenwärtigen Aufzug konnte sie ihn kaum hereinbitten, ohne im Hotel für Gerede zu sorgen. Allerdings würde sie diese Stadt ohnehin bald verlassen, also brauchte sie sich nicht darum zu kümmern, was man von ihr dachte.
»Wir können gemeinsam ein Gläschen trinken«, schlug sie vor. Juan Ramirez warf rasch einen Blick in den Gang, als sei auch ihm das Problem der Schicklichkeit bewusst. Dann trat er ein und schloss schnell die Tür.
»Na gut, es hat mich keiner gesehen. Und sobald das Glas leer ist, schleiche ich mich wieder in mein Zimmer.«
Alice nickte. Sie entdeckte neben dem Waschbecken zwei schlichte Holzbecher, die er großzügig mit einer hellen Flüssigkeit füllte.
»Das ist Comiteco, ein Schnaps, für den Chiapas berühmt ist.«
Sie prosteten einander zu.
»Auf dass Sie sicher in Ihre Heimat kommen. Ich begleite Sie nach Veracruz.«
Alice lächelte.
»Das freut mich.«
Sie sprach die Wahrheit. Ihre Freude über seinen Besuch war ungetrübt, denn sie konnte sich noch gut erinnern, wie sicher und geborgen sie sich in seinen Armen gefühlt hatte.
»Vielleicht schreiben Sie mir, wenn Sie in Deutschland angekommen sind. Ich würde mich freuen«, sagte er. Alice versprach, dies zu tun.
»Es soll noch Essen gebracht werden«, sagte sie dann. Juan Ramirez schüttelte den Kopf.
»Ich habe es abbestellt. Ich dachte, der Comiteco wäre Ihnen lieber.«
Wieder blitzten seine Zähne weiß auf, als er lächelte. Alice war aufgeregt, denn nun würde niemand mehr kommen, um ihre Zweisamkeit zu stören.
Es geschah so plötzlich wie damals in Veracruz. Sie konnte später nicht mehr sagen, von wem die erste Berührung ausgegangen war, nur dass der Wunsch, ihre Hände auf seine glatte hellbraune Haut zu legen, übermächtig geworden war. Der Rausch pulsierte in ihren Adern so wie früher bei Harry. Ihre Körper verschlangen sich ineinander, und sie krallte sich voller Ungeduld an ihn, als er sie auf das schmale Hotelbett trug. Alles ging sehr schnell, war vorbei, bevor Alice einen klaren Gedanken fassen konnte, doch sie lagen danach in satter Zufriedenheit beieinander, als wäre ein lang gehegter, gemeinsamer Wunsch endlich erfüllt worden.
»Ich sollte jetzt gehen«, sagte Juan Ramirez nach einer Weile des Schweigens. »Morgen früh würde es auffallen, wenn ich aus deinem Zimmer komme.«
Alice widersprach nicht. Sie beobachtete, wie er sich rasch ankleidete, bevor er sich mit
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