Der Duft des Regenwalds
Fußweg durch das Elendsviertel bevorstand, doch umgeben von fünf bewaffneten Männern, fühlte sie sich sicher.
»Wie haben Sie mich gefunden?«, fragte Alice ihren Retter.
»Es war gar nicht so schwer. Ihr Entführer muss ein ziemlicher Dummkopf gewesen sein. Eine blonde, europäische Frau fällt in dieser Gegend auf. Außerdem müssen Sie da drinnen ein höllisches Geschrei veranstaltet haben. Als ich auf die Idee kam, ein paar Indio-Jungen Geld für hilfreiche Auskünfte anzubieten, hatte ich Sie recht schnell gefunden. Leider waren ein paar der Hinweise, die man uns gab, falsch, sodass es doch ein bisschen dauerte.«
Er hatte Alice seinen Arm gereicht, und diesmal hakte sie sich wieder dankbar bei ihm ein, so wie einst in Veracruz.
»Es war nicht gerade klug von diesen Leuten, mich so einfach schreien zu lassen«, sagte sie. Juan Ramirez stieß ein leises Lachen aus.
»So, wie ich es verstanden habe, gingen sie nicht davon aus, dass jemand nach Ihnen sucht. Sie hatten Besuch von einem Caxlán, so nennen die Indios weiße Herren, bekommen, der seiner schönen, störrischen Geliebten eine Lektion erteilen wollte. Sie sollte glauben, entführt worden zu sein, und ein paar Tage Angst haben, bevor er sie selbst wieder holte. Dafür versprach er diesen Indios eine stattliche Summe Geldes. Sie sollten nur unter Verschluss gehalten und mit Nahrung versorgt werden, nichts weiter. Niemand wollte Ihnen etwas Böses antun.«
Alice fielen die Schauergeschichten ein, die sie sich in ihrer Panik ausgedacht hatte, und seufzte. Meist war die Wirklichkeit viel banaler, aber zum Glück auch weniger gefährlich.
»Aber nun erklären Sie mir bitte, wie Sie in diese missliche Lage geraten sind«, drängte Juan Ramirez. Sie holte Luft. Wahrscheinlich wurde sie für ihn durch diese Geschichte endgültig zu einem dummen Mädchen, das unsinnigen Verdächtigungen nachhing, aber sie hatte keine andere Wahl, als die Wahrheit zu erzählen.
»Dieser Mann«, berichtete sie, als sie dem Elendsviertel entkommen waren und in Richtung Hotel gingen, »er muss gefunden werden, damit ich erfahre, was man mit mir vorhatte.«
Juan Ramirez’ Zähne blitzten im Licht der Straßenlaternen, als er sie nachsichtig anlächelte.
»Ich kann mir gut vorstellen, was man mit Ihnen vorhatte. Und der Kerl wird nicht leicht zu finden sein. Sobald ihm zu Ohren kommt, dass Sie befreit wurden, macht er sich aus dem Staub und sucht an einem anderen Ort nach hübschen Frauen, die auf seine Geschichten hereinfallen und die er dann irgendwo an ein Bordell verkaufen kann, wenn er selbst genug von ihnen hat.«
Alice’ Magen zog sich zusammen. Sie hätte sich ohrfeigen können wegen ihrer naiven Gutgläubigkeit.
»Aber«, widersprach sie einen Augenblick später, »er wusste so viel über mich und vor allem über Patrick. Wie sollte ein gewöhnlicher Mädchenhändler das in kurzer Zeit herausbekommen? Mir scheint es, dass er im Auftrag einer anderen Person handelte.«
Dass es ihrer Meinung dabei nicht darum gegangen war, sie an einen Bordellbesitzer zu verschachern, sondern ihre Nachforschungen über Patricks Tod zu beenden, sprach sie vorsichtshalber nicht aus, um Juan Ramirez nicht gegen sich aufzubringen. Sie hatten nun das Hotel erreicht, sodass er ohnehin nicht auf ihre Überlegungen eingehen konnte. Ein paar Leute hatten sich bereits im Patio versammelt. Alice wurde bewusst, welchen Anblick sie in ihrer völlig verschmutzten Kleidung bieten musste, doch das schien ihr im Augenblick unwichtig. Ein sichtlich erleichterter Hans Bohremann kam ihr entgegen und wollte sich versichern, dass sie unverletzt war. Dr. Scarsdale stand ein Stück hinter ihm. Alice fühlte sich von seinem Gelehrtenblick abgeschätzt wie ein neues Fundstück. Sobald er sich von ihrer Unversehrtheit überzeugt hatte, trat auch er näher, um zu erfahren, was geschehen war. Sie überließ das Reden nun Juan Ramirez, der ihren Bericht knapp zusammenfasste und darauf verzichtete, sie als allzu großes Dummchen hinzustellen. Sie selbst fügte lediglich hinzu, dass nach ihrem Entführer gesucht werden sollte.
»Leider ist er schwer zu beschreiben, denn er sieht einfach wie ein ganz gewöhnlicher Mexikaner aus«, sagte sie. »Aber wenn er vor mir steht, dann erkenne ich ihn sofort.«
»Das weiß er vermutlich und wird sich Ihnen niemals mehr freiwillig zeigen«, sagte Rosario. Der Blick, den sie Alice zuwarf, schien etwas abfällig. Die anwesenden Männer mochten von dem Schrecken, den sie
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