Der Duft des Sommers
ungewöhnlich war. An seiner Schläfe pochte eine Ader. Meine Mutter schaute zum Fenster: nirgendwo ein Auto zu sehen. Wer da klopfte, war zu Fuß hergekommen.
Mach du auf, Henry, sagte sie. Und sag, wir hätten zu tun.
Es war Mr. Jervis von nebenan mit einem Eimer voller Pfirsiche.
Wir haben so viele, dass wir gar nicht wissen, was wir
mit ihnen machen sollen, sagte er. Ich dachte, deine Mutter kann sie vielleicht brauchen.
Ich nahm ihm den Eimer ab. Aber Mr. Jervis blieb stehen, als gäbe es noch etwas zu sagen.
Soll ja ’n heißes Wochenende werden, sagte er. Fünfunddreißig Grad soll’s morgen geben.
Ja, sagte ich. Hab ich in der Zeitung gesehen.
Sonntag kommen unsre Enkelkinder. Du kannst gern vorbeischauen und in den Pool springen, wenn du nichts vorhast. Dich ’n bisschen abkühlen.
Die Jervis’ hatten ein Schwimmbad im Garten hinter dem Haus, das den ganzen Sommer nicht benutzt wurde, außer wenn ihr Sohn mit seiner Familie aus Connecticut zu Besuch kam. Ein Mädchen in meinem Alter, das immer herumschnorchelte und spielte, es sei ein Androide, und ein dreijähriger Junge, der vermutlich ins Wasser pinkelte. Nicht sonderlich verlockend.
Ich bedankte mich für das Angebot.
Ist deine Mutter daheim?, fragte er. Die Frage war überflüssig – nicht nur weil unser Wagen vor dem Haus stand. Jeder in der Straße wusste, dass meine Mutter so gut wie nie wegging.
Sie hat grade zu tun.
Richte ihr doch mal was aus, falls sie’s noch nicht gehört hat. Aus Stinchfield, dem Staatsgefängnis, ist ein Häftling ausgebrochen. Im Radio haben sie gesagt, er sei zuletzt im Shoppingcenter gesehen worden. Gab keine Meldungen, dass ihn jemand mitgenommen hätte oder dass ein Auto verschwunden wäre, was heißt, dass er noch hier in der
Gegend sein könnte. Meine Frau macht sich vor Angst fast in die Hose, weil sie meint, der sei schon zu uns unterwegs.
Meine Mutter näht grade, sagte ich.
Ich wollt nur, dass sie Bescheid weiß. Weil sie ja allein ist. Wenn’s irgendein Problem gibt, klingelt einfach durch.
7
Als Mr. Jervis verschwunden war, ging ich in die Küche zurück. Ich war höchstens vier Minuten draußen gewesen, aber obwohl ich schon vier Jahre in diesem Haus wohnte und wir Frank erst am Tag zuvor getroffen hatten, hatte ich das Gefühl, irgendwo reinzuplatzen. Wie damals bei meinem Vater, als ich ins Schlafzimmer kam und Marjorie mit dem Baby auf dem Schoß auf dem Bett saß, und ihre Bluse war offen, und ich konnte eine Brust sehen. Und ein andermal, als wir früher Schule aus hatten, weil ein Experiment misslungen war und das ganze Gebäude nach Schwefel roch. Als ich nach Hause kam, lief so laute Musik, dass meine Mutter mich nicht hörte, und ich sah sie im Wohnzimmer tanzen. Keinen richtigen Tanz mit Schritten, wie sie ihn mir immer beibringen wollte. An diesem Tag wirbelte sie durchs Zimmer wie einer dieser Derwische, die ich mal in einer National Geographic-Sendung gesehen hatte. So sahen die beiden aus, als ich mit den Pfirsichen wieder reinkam. Als seien sie ganz allein auf der Welt.
Sie hatten mehr, als sie brauchen konnten, sagte ich. Die Jervis’.
Was Mr. Jervis über den entflohenen Mann gesagt hatte, erwähnte ich nicht.
Ich stellte die Pfirsiche auf den Tisch. Frank kniete auf dem Boden und reparierte ein Rohr an der Spüle. Meine Mutter saß neben ihm, einen Schraubenschlüssel in der Hand. Sie sahen sich an.
Ich nahm einen Pfirsich aus dem Eimer und wusch ihn ab. Meine Mutter glaubte nicht an Bazillen, aber ich. Bazillen sind erfunden worden, um die Leute von dem abzulenken, worüber sie wirklich beunruhigt sein sollten, sagte meine Mutter immer. Bazillen seien ganz normal. Beunruhigt sein sollte man eher über das Verhalten der Leute.
Gut, der Pfirsich, sagte ich.
Frank und meine Mutter hockten da immer noch mit den Werkzeugen in der Hand und rührten sich nicht. Schade, dass sie schon so reif sind, sagte meine Mutter. Die schaffen wir gar nicht alle.
Ich sag euch was, begann Frank. Seine Stimme, die immer tief und dunkel war, klang plötzlich noch eine halbe Oktave tiefer, so als sei Johnny Cash bei uns in der Küche.
Wir haben ein echtes Problem, fügte er hinzu.
Ich musste immer noch daran denken, was Mr. Jervis gesagt hatte. Aus der Zeitung wusste ich mittlerweile, dass sie Straßensperren errichtet hatten. Drüben am Damm waren Helikopter unterwegs, weil jemand geglaubt hatte, einen Mann gesehen zu haben, auf den die Beschreibung passte. Seit kurzem hieß es, er
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