Der Duft des Sommers
an den Kopf.
Ich wusste, dass Evelyn sich früher häufig mit meiner Mutter darüber unterhalten hatte, dass die Leute Barrys Intelligenz und seine Aufmerksamkeitsspanne unterschätzten. Eine Weile hatte sie sich noch darum bemüht, ihren Sohn in einer normalen Schulklasse unterzubringen. Aber jetzt schien sie Barrys Aufgeregtheit kaum wahrzunehmen. Dabei ruderte er viel wilder als gewöhnlich mit den Armen, seine Füße schlugen aus, und er kreischte laut. Und starrte dabei regelrecht auf den Bildschirm, obwohl er sonst eher Mühe hatte, etwas zu fixieren.
Zeit zum Heimfahren, Sohn, sagte seine Mutter müde.
Zu dritt manövrierten wir den Rollstuhl rückwärts durch die Haustür und senkten ihn auf den Weg ab. Meine Mutter und ich schauten zu, wie Evelyn ihn dann über die Rampe
in ihren Kombi schob und dort festschnallte. Als sie die Türen schloss, sah ich Barrys Gesicht. Er brabbelte immer noch diese eine Silbe, das erste seiner Wörter, das ich jemals verstand.
Immer wieder sagte er es, gurgelnd, aber erkennbar. Frank.
An diesem Abend hörte ich sie wieder. Sie mussten wissen, dass ihre Geräusche durch die Wand drangen. Es kam mir vor, als sei es ihnen mittlerweile einerlei, wer über sie Bescheid wusste oder sie hören konnte, mich eingeschlossen. Sie befanden sich jetzt an einem eigenen Ort, und der war wie ein ganz anderes Land oder sogar ein anderer Planet.
Er dauerte lange, ihr Liebesakt. Damals benutzte ich dieses Wort noch nicht dafür – und auch kein anderes. Ich hatte keine Erfahrung damit und kannte auch niemanden, der welche hatte. Auch wenn ich – was selten vorkam – bei meinem Vater übernachtete, erlebte ich so etwas nicht, obwohl er mit Marjorie im selben Bett schlief. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich in den Nachbarhäusern so etwas abspielte, und es kam auch nicht im Fernsehen vor, selbst wenn Magnum eine hübsche Frau küsste oder irgendwelche Gaststars bei Love Boat im Mondlicht kuschelten.
Ich versuchte zwar, nicht daran zu denken, stellte mir aber trotzdem vor, dass meine Mutter und Frank wie zwei Schiffbrüchige auf einer einsamen Insel waren, die nur die Haut, den Körper des anderen hatten, um sich daran festzuhalten. Oder vielleicht war es nicht einmal eine Insel, wo sie sich befanden, sondern ein Rettungsboot mitten auf dem Ozean, das allmählich auseinanderbrach.
Manchmal schlug das Kopfbrett minutenlang gegen die Wand, so regelmäßig und rhythmisch, wie wenn Joe, mein Hamster, in seinem Rad herumrannte. Oder – und das war noch schwerer zu ertragen – ich hörte Laute wie von Jungtieren. Vögeln oder kleinen Katzen. Danach ein langgezogenes zufriedenes Knurren, wie wenn ein Hund am Kaminfeuer liegt und einen Knochen bearbeitet, ihn abnagt und ableckt, damit er auch noch das letzte Stückchen Fleisch findet.
Dann und wann eine menschliche Stimme. Adele. Adele. Adele.
Frank.
Ich hörte sie nie von Liebe sprechen, fast, als hätten sie auch das schon hinter sich gelassen.
In diesen Momenten dachten sie ganz gewiss nicht daran, dass ich auf der anderen Seite der Wand lag, in meinem Zimmer mit dem Einstein-Poster und der Mineraliensammlung, meinen Narnia-Büchern, dem Brief mit den Autogrammen der Apollo-12-Astronauten, dem Großen Witzebuch und dem Zettel, mit dem Samantha Whitmore mir erstmals gezeigt hatte, dass ihr meine Existenz bewusst war: Hast du die Matheaufgaben für morgen?
Sie dachten auch nicht an die Hitze, das Stromsparen, die Red Sox, an Pfirsich-Pie, Schuleinkäufe und Franks Blinddarmwunde, die ich gesehen hatte und die noch immer ziemlich rot aussah, genauso wie sein Schienbein. Sie dachten nicht an Fenster im zweiten Stock, Nachrichtensprecher, Straßensperren oder die Helikopter, die am Vortag ständig über der Stadt gekreist waren. Wonach hatten
die Ausschau gehalten? Nach einer triefenden Blutspur? An Bäume gefesselte Leute? Einem Lagerfeuer, über dem ein Mann sich ein Eichhörnchen briet?
Solange wir im Haus blieben, würde keiner erfahren, dass Frank hier war. Tagsüber konnte zwar jemand vorbeikommen, nachts aber ganz bestimmt nicht. Wir waren wie drei Leute, die nicht auf der Erde wohnten, sondern darüber schwebten.
Wobei auch das nicht ganz stimmte. Eher handelte es sich um zwei Leute zusammen und noch einen dritten, einzelnen. Die beiden waren wie die zwei Apollo-Astronauten, die gemeinsam über den Mond wanderten, während ihr verlässlicher Gefährte in der Raumkapsel blieb, die Kontrollfunktionen überwachte und dafür
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