Der Duft von Hibiskus
verzweifelten Bemühungen drehte sich die Spirale in ihrem Kopf weiter. Einer der Toten war ihr ungeborenes Kind gewesen. Aber es hatte zwei Tote gegeben. Wen hatte Emma noch umgebracht? Denn dass sie auch für den zweiten Toten verantwortlich war, erschien ihr nur folgerichtig. Wer einmal tötete, konnte es auch zweimal tun.
Die bloße Möglichkeit ihrer Schuld überwältigte Emma, und plötzlich spürte sie nichts mehr als nackte Angst. Die Angst erfüllte die Dunkelheit, stürmte von den Wänden auf sie ein und schien sie gleichzeitig von innen her zu zerfressen. Wispernde Geräusche drangen an ihr Ohr. War es das Zirpen und Summen der Insekten, oder waren es böse Geister, die sich an Emmas Entsetzen weideten? Sie wusste es nicht. Sie wusste gar nichts mehr.
Nur dieses Eine: Mit der Einsicht, eine Doppelmörderin zu sein, würde sie nicht weiterleben können.
Als sie sich zum Frühstück schleppte, lagen unter ihren Augen graue Schatten. Erst gegen Morgen hatte sie in einen kurzen, erschöpften Schlaf gefunden, den der »lachende Hans« jedoch bald wieder beendet hatte.
Nun fühlte sie sich zittrig und leer. Immerhin aber war sie in den langen Stunden, die der Panikattacke gefolgt waren, zu dem Schluss gekommen, dass sie nicht zwangsweise eine Mörderin war. Es war möglich – aber es war nicht sicher! Das letzte entscheidende Stück ihrer Erinnerung fehlte, und vielleicht würde dieses ihr doch noch enthüllen, dass sie unschuldig war. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass es so war. Wie sollte sie sonst weitermachen? Wie aufstehen, wie zum Frühstück gehen, wie die anderen Forscher begrüßen?
Wie Carl in die Augen schauen, der so fest an sie glaubte?
Im hellen Morgenlicht schämte sich Emma für ihre nächtliche Weigerung, die Erinnerung bis zum Schluss durchzustehen. Wenn das nun ihre einzige Chance gewesen war? Sie hatte seit Monaten darauf hingearbeitet! Wie hatte sie kurz vor dem Ziel nur so feige sein können?
Ihr Ärger verdrängte die Reste der Angst, und als sie das Haupthaus betrat, schwor sie sich, beim nächsten Mal der Wahrheit ins Auge zu sehen, egal was dabei herauskam. Sie dachte an das ungeborene Leben, das sie verloren hatte, und unwillkürlich legte sie die Hände auf ihren Bauch.
Da ist es drin gewesen, und ich habe einfach vergessen, dass es je existiert hat, ich, seine Mutter, dachte sie. Seltsamerweise schmerzte Emma dies am meisten.
Carl sah sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Beunruhigt sprang er auf und lief auf sie zu, doch sie wehrte mit einem leichten Kopfschütteln ab. Wenn es gar nicht stimmte, dass sie eine Mörderin war, dann hatte sie Trost auch nicht nötig. Wenn es doch stimmte … dann hatte sie Carls Trost nicht verdient.
Carl akzeptierte ihre Reserviertheit, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch im Laufe des Frühstücks ertappte sie ihn mehrmals dabei, wie er ihr besorgte Blicke zuwarf. Ganz im Gegensatz zu Oskar, dessen Blicke mal wieder eindeutig lüstern waren.
Je mehr ich ihn verabscheue, desto mehr scheint er mich zu begehren, dachte Emma müde.
Sie spürte Oskar gegenüber nun keinerlei Beklommenheit mehr, sondern nur noch gleichgültige Verachtung. Was konnte er ihr schon anhaben? Die wahre Gefahr, das wusste Emma nach dieser Nacht besser denn je, lag in ihr selbst.
Nach dem Frühstück kam Oskar zu ihr ins Zeichenzimmer. Er verhielt sich, als sei zwischen ihnen niemals etwas vorgefallen, und erklärte ihr sachlich, dass Godeffroy Wert darauf lege, nicht nur pflanzliches, sondern auch tierisches Material geliefert zu bekommen. Da er diesen Bereich bisher eher vernachlässigt habe, wolle er sich von nun an ausschließlich der australischen Tierwelt widmen.
Emma hörte ihm zu, so gut sie konnte. Seit sie sich an ihre Schwangerschaft erinnert hatte, war ein Teil von ihr ständig – in jeder Stunde, jeder Minute, jeder Sekunde – damit beschäftigt. So musste sie ihre Gedanken auch jetzt beharrlich in die Gegenwart zwingen, wenn sie merkte, dass sie schon wieder ein, zwei Sätze verpasst hatte, weil sie nur über das letzte fehlende Stück ihrer Erinnerung gegrübelt hatte.
»… und deshalb wirst du heute diese fliegenden Hunde zeichnen«, sagte Oskar gerade. Er hielt ihr eine Flasche mit Spiritus hin, die drei fledermausartige Wesen enthielt. »Prächtige Exemplare, wenn sie auch etwas verschreckt schauen. Der Tod scheint ihnen nicht geschmeckt zu haben.« Er lachte.
Emma griff mechanisch nach der Flasche mit den toten Tieren und fragte
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